Eine spekulative Erörterung zwischen Bibel, Platon und Heidegger
Ein zweiter persönlicher Zugang ist banaler – oder auch nicht. In einem Theaterstück wollte mir die negative Figur nicht gelingen. Der Regisseur riet mir zur Überarbeitung mit dem Hinweis: „Du musst auch diese Figur lieben, sonst gibst du ihr kein Leben.“ Weil ich sie nicht geliebt hatte, hatte ich sie nicht erkannt, war sie nicht zum Leben gekommen.
Die Erkenntnis (von Gut und Böse) ist dem Menschen im Paradies zunächst verwehrt:
„Dann gebot Gott, der Herr, dem Menschen: Von allen Bäumen darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben.“ (Gen 2,16-17)[1]
Das Naschen vom Baum der Erkenntnis, zu dem nach landläufiger Deutung der gutmütige Adam sich von der lüsternen, ihrerseits von der Schlange verführten Eva hinreißen ließ, hat zwar nicht den Tod zur Folge, wohl aber die Vertreibung aus dem Paradies und die damit einhergehende Endlichkeit des Lebens, die Sterblichkeit. Der Mensch, der sich aus Lust die Last des Erkennens von Gut und Böse auferlegt hat, ist aus der Versorgtheit und Sorglosigkeit der Ewigkeit verstoßen und muss sich fortan damit quälen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, am Guten sich zu mühen und immer wieder zu scheitern, am Bösen zu verzweifeln und doch daran zu wachsen (für Goethe ist Mephistopheles „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“[2]). Mit der Endlichkeit des Leben beginnt das irdische Leben, erwacht der Mensch aus dem passiven Glück des Paradieses zum aktiven Gestalten seiner Welt und zur Erhaltung des Lebens durch die bis dahin Gott vorbehaltene Zeugung mittels des Erkennens:
„Adam erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Kain. Da sagte sie: Ich habe einen Mann vom Herrn erworben. Sie gebar ein zweites Mal, nämlich Abel, seinen Bruder. Abel wurde Schafhirt und Kain Ackerbauer.“ (Gen. 4,1-3)[3]
Kain erschlägt Abel vor Neid, weil Gott dessen Brandopfer wohlwollend annimmt, während er jenes von Kain zurückweist. In der Bibel ist die Haltung Gottes oft eine Spiegelung der Haltung des Menschen.[4] Was so aussieht, als käme es von Gott (Verderben, Strafe), ist vom Menschen ausgelöst: Gott hat Abels Opfer angenommen, weil Abel, der Schafhirte sich zurücksehnte nach Gott, ins Paradies. Gott hat Kains Opfer abgewiesen, weil Kain, der Ackerbauer, schon vorwärts drängte ins Erobern der ihm zugewiesenen Welt. Das schuldfreie, von Erkenntnis unbelastete Paradies stirbt mit Abel ein zweites Mal, das schuldhafte, erkenntnissuchende, todbehaftete und zeugende Leben setzt sich durch:
„Kain erkannte seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Henoch.“ (Gen 4,17).[5]
Auch in Platons „Gastmahl oder Von der Liebe“ wurden die bis dahin alle (drei) Geschlechter in sich vereinenden kugelförmigen Menschen („Mannweibchen“) von den Göttern bestraft, weil „sie es unternahmen, den Himmel zu ersteigen“.[6] Die Götter teilten den Menschen in zwei Hälften, mit Variablen in der Geschlechterverteilung – männlich, weiblich, mannweiblich, so dass diese Hälften verzweifelt einander suchten und daran zugrunde gingen.
„Da erbarmte sich Zeus und erfand eine andere Hilfe: er versetze ihre Schamteile nach vorn. Denn bisher hatten sie diese außen, und sie befruchteten und zeugten nicht ineinander, sondern in die Erde wie die Zykaden. So versetzte er sie nun nach vorn und machte, dass sie ineinander zeugen, das Männliche im Weiblichen, deswegen, damit in der Umarmung ein Mann, wenn er mit einem Weibe zusammenkommt, zeugt und Nachkommenschaft entsteht; wenn aber Männliches mit Männlichem, ihnen wenigstens Sättigung würde aus der Vereinigung und sie sich beruhigten und zum Werke wendeten und auf das andere Leben bedacht seien.[7]
Auch da besteht die Linderung der Strafe (Tod, Sterblichkeit) in der Gewährung des menschlichen Schaffens und der körperlichen Liebe, dem hohen Ansehen der Homosexualität entsprechend sowohl der zeugenden Liebe, als auch der zeugungsfreien unter Männern. Die eine diente der Fortpflanzung, die andere als höhere Form der Liebe dem Eros, dem Werke und der Erkenntnis:
„Die Weisheit gehört nämlich zu den schönsten Dingen, Eros aber ist Liebe zum Schönen, so dass Eros notwendig weisheitssuchend ist.[8]
Kluge, Friedrich, „Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache“
Liebe: entwickelt sich aus dem althochdeutschen „luba“ für Freude und Liebe, urverwandt mit dem lateinischen „lubens“ (gern). Das Gotische bietet „lubo“ für Liebe und „lubains“ für Hoffnung.[9]
Kennen: althochdeutsch „chennan“ für kennen, germanisch „kunnan“ für wissen. Erkennen wird auch als reflexive Möglichkeit erwähnt: „sich wissen machen“. Weitere Verwandte: Können und kühn.[11]
So findet sich im Er-kennen ein Ur-kennen, ein Ur-wissen von der Welt, ein Wieder-er-kennen des Geliebten.
Schmidt, Heinrich, „Philosophisches Wörterbuch“
Zu Liebe:
„Das einander in seiner Existenz wechselseitig anerkennende, ja fördernde Streben zueinander.“[12]
Steigerungsformen: kennen, erkennen, an-er-kennen. Ich kenne jemanden, ich er-kenne ihn oder in ihm etwas Besonderes, ich an-er-kenne ihn oder dieses Besondere.
„Schopenhauer setzt Liebe gleich Mitleid. In der Ethik ist Liebe die Tugend der Persönlichkeit in Bezug auf die Persönlichkeit, gehört selbst zum Persönlichkeitswert des Liebenden und ist auf den Persönlichkeitswert des Geliebten gerichtet, Hingabe an ihn ... Denn alles, was `an sich´ wertvoll ist, erfüllt seinen Sinn darin, dass es auch `für jemand´ wertvoll ist ... Der Liebende gibt dem Geliebten die ... neue Dimension seines Wesens, `für ihn´ zu sein, was er sonst nur `an sich´ ist. Persönliche Liebe ist der Komplementärwert zur Persönlichkeit, die Sinngebung ihres Seines (Nic. Hartmann, Ethik, 1948).“[13]
„In der Erkenntnistheorie ist Liebe Voraussetzung und Beginn des Erkenntnisprozesses (...) Augustinus sagt: (...) wir erkennen so viel, wie wir lieben; ähnlich Goethe, Leonardo da Vinci, Giordano Bruno. Bei Pascal bereitet die Liebe (das „Herz“) der Vernunft den Weg zu den Dingen und zu den Menschen. Die tief in das Wesen des Seienden hinabreichenden Beziehungen zwischen Liebe und Erkenntnis hat vor allem Max Scheler aufgedeckt (...). Bei Sartre ist das Lieben seinem Wesen nach der Entwurf, sich lieben zu lassen. Das Ideal, das Ziel und der Wert Liebe bestehen darin, auf die Freiheit des anderen einzuwirken, aber die Freiheit intakt zu lassen: sie soll sich selbst dazu bestimmen, Liebe zu werden. „Geliebt werden wollen heißt, den andere zwingen wollen, mich fortwährend neu zu erschaffen als die Bedingung für seine Freiheit.“[14]
Zu Erkenntnis:
„das Sichaneignen des Sinngehaltes von erlebten bzw. erfahrenen Sachverhalten, Zuständen, Vorgängen, mit dem Ziele der Wahrheitsfindung. Erkenntnis heißt sowohl (ungenau) der Vorgang, der genauer als Erkennen bezeichnet werden muss, als auch dessen Ergebnis.“[15]
„Bei der Erkenntnis stehen sich Subjekt und Objekt als Erkennendes und Erkanntes gegenüber. Das Subjekt erfasst und das Objekt ist erfassbar. Das Erfassen geschieht dadurch, dass das Subjekt gleichsam in die Sphäre des Objekts hinübergreift und es in seine eigene hereinholt.“[16]
Je nach Leseart: Erkenntnisakt, Liebesakt, Geschlechtsakt.
Erkenntnis ist Liebe ist Schöpfung ist Erkenntnis: Das Erkennen der Erkenntnis dreht sich im Kreis. Für Johann Gottfried Herder beginnt das Denken mit der Sprache:
„Die menschliche Seele denkt mit Worten (...) Denn jeder Mensch kann und muss allein in seiner Sprache denken.“(„Abhandlung über den Ursprung der Sprache“)[17]
Aber wie kann es die Sprache vor oder ohne Erkenntnis geben? Für Wilhelm von Humboldt erwacht der Mensch erst durch die Sprache „aus der Dumpfheit der Begierde, in welcher das Subject das Object verschlingt, zum Selbstbewusstsein, das Wort ist der erste Anstoß, den sich der Mensch selbst giebt, plötzlich stillzustehen, sich umzusehen und sich zu orientieren“.[18]
Begierde, das Verschlingen der Frau durch den Mann etwa, scheint mir damit für Humboldt noch außerhalb des Erkennens zu sein, obwohl auch für ihn Erkenntnis der sinnlichen Wahrnehmung bedarf.
Kein Denken, auch das reinste nicht, kann anders, als mit Hülfe der allgemeinen Formen unserer Sinnlichkeit geschehen; nur in ihnen können wir es auffassen und gleichsam festhalten“ (Humboldt)[19].
Für Immanuel Kant ist Sinnlichkeit die Fähigkeit, von dem zu Erkennenden „affiziert“ zu werden:
„Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselben unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung. Diese findet aber nur statt, sofern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum, uns Menschen wenigstens, nur dadurch möglich, dass er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere. Die Fähigkeit, (Rezeptivität) Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe.“ (Kant)[20]
Wie sinnlich ist diese Sinnlichkeit zu verstehen? Humboldt unterscheidet streng zwischen der Welt der kontrollierten, menschlichen Sprache und dem Empfindungsgeschrei, dem Naturlaut des losgelassenen Gefühls. Einen Orgasmus der Erkenntnis bestreitet er:
„Als der Mensch Sprachzeichen suchte, hatte sein Verstand das Geschäft zu unterscheiden (...) Diesem gemäß wählte also auch die Zunge artikulierte Töne, solche, die aus Elementen bestehen, welche vielfach neue Zusammensetzungen erlauben. Solche Töne giebt es sonst in der ganzen übrigen Natur nicht, weil niemand, außer dem Menschen, seine Mitgeschöpfe zum Verstehen durch Mitdenken (...) einladet. Der Mensch nimmt daher keinen einzigen Naturlaut, roh wie er ist, in seine Sprache auf, sondern bildet immer nur einen demselben ähnlichen artikulierten. Er unterscheidet sogar sein eigenes Empfindungsgeschrei gar sehr von der Sprache; und hierin leitet die Empfindung auch den Gebildetsten sehr richtig – ist er so bewegt, dass er nicht mehr daran denken kann, den Gegenstand von sich selbst wenigstens in der Vorstellung loszureissen, so stösst er den Naturlaut aus; im entgegengesetzten Fall redet er und erhöht nur den Ton nach der Maßgabe seines Affects.“[21]
Die Aufhebung der Distanz zum Gegenstand der Erkenntnis – ob Denkfigur oder Frau – bedeutet den Verlust der Erkenntnis. Ob es aber eine reine unbefleckte Erkenntnis geben kann, ist eine ungeklärte, philosophische Grundfrage:
„Seit der Antike wird immer wieder die These vertreten, die Seele sei ein einheitliches Vermögen und lasse sich nicht in die Dreiheit von Erkennen, Fühlen und Wollen aufteilen.“[22]
Platon:
„Entweder lernen wir mit dem einen, sind mit einem zweiten in uns mutig und mit dem dritten begehren wir nach den Vergnügungen des Essens und der Fortpflanzung und allen ähnlichen Freuden – oder wir verrichten jedes einzelne davon mit der ganzen Seele, wenn wir es einmal begonnen haben.“ (Politeia, 435a7-437a2)[23]
In Platons „Gastmahl“ geht der weisheitsuchende Eros fließend vom Körperlichen zum Geistigen, vom Geistigen zum Körperlichen über, um am Ende zur Vereinigung zu führen:
„Wenn aber einer von diesem andern aufsteigend durch die echte Liebe zu Knaben jenes Urschöne zu schauen beginnt, dann berührt er fast das Ziel. Denn dies heißt richtig zum Erotischen gehen oder geführt werden, dass man von diesen schönen Dingen beginnend jenes Schönen wegen immer hinaufsteige, gleichsam auf Stufen steigend, von einem zu zweien und von zweien zu allen schönen Leibern und von den schönen Leibern zur schönen Lebensführung und von der schönen Lebensführung zu den schönen Erkenntnissen, bis man von den Erkenntnissen endlich zu jener Erkenntnis gelangt, welche die Erkenntnis von nichts anderem als jenem Schönen selbst ist, und man am Ende jenes Selbst, welches schön ist, erkenne.[24]
5. Coincidentia oppositorum: die Vereinigung der Gegensätze
Die katholische Kirche hat in – in Abweichung von der Einheit geistigen Erkennens und körperliche Liebe im Schöpfungsbericht – den erkennenden, glaubenden Geist vom verkennenden, sündigen Körper zu trennen versucht. Geist gegen Materie, Seele gegen Körper, Tugend gegen Sünde, Moral gegen Fleisch. Den Geist hat uns Gott geschenkt, mit dem Fleisch verderben wir ihn.
Der Marxismus erblickt im Erkennen des Menschen eine historische Leistung. Der zu sich kommende Mensch schafft durch die Kulturleistungen erst die Sinne, die diese Leistungen wahrnehmen können – wieder haben wir das Muster des Kreises. Zu den erkennenden Sinnen zählt Karl Marx nicht nur die bekannten fünf Sinne, sondern auch Wollen und Lieben, die er „geistige“ und „praktische“ Sinne nennt – Sinne des menschlichen Fortschrittswillen und Schaffens; sehr frei interpretiert: die Sinne Kains.
„Nicht nur im Denken, sondern mit allen Sinnen wird daher der Mensch in der gegenständlichen Welt bejaht. Andrerseits: Wie erst die Musik den musikalischen Sinn des Menschen erweckt, wie für das unmusikalische Ohr die schönste Musik keinen Sinn hat, [ kein] Gegenstand ist, weil mein Gegenstand nur die Bestätigung einer meiner Wesenszüge sein kann, also nur so für mich sein kann wie meine Wesenskraft als subjektive Fähigkeit für sich ist, weil der Sinn eines Gegenstandes für mich (...) grade so weit geht, als mein Sinn geht, darum sind die Sinne des gesellschaftlichen Menschen andre Sinne wie die des ungesellschaftlichen; erst durch den gegenständlich entfalteten Reichtum der subjektiven menschlichen Sinnlichkeit wird ein musikalisches Ohr, ein Auge für die Schönheit der Form, kurz werden erst menschlicher Genüsse fähiger Sinne, Sinne welche als menschliche Wesenskräfte sich bestätigen, teils erst ausgebildet, teils erst erzeugt. Denn nicht nur die fünf Sinne, sondern auch die sogenannten geistigen Sinne, die praktischen Sinne (Wille, Liebe, etc.), mit einem Wort der menschliche Sinn, die Menschlichkeit der Sinne wird erst durch das Dasein eines Gegenstandes, durch die vermenschlichte Natur.“[25]
Die historische Menschwerdung erzeugt die Sinne; auch die Liebe ist für Marx ein Sinn, der von der Vermenschlichung der Natur geschaffen wurde und erst dadurch Äußerungen der Liebe wahrnehmen kann – ebenso wie erst das musikalische Ohr die Musik wahrnehmen kann. Da kehrt das Grundmuster der Schöpfungsgeschichte wieder: Die Lösung des Menschen von Gott, die Vermenschlichung, die Anstrengungen im Leben führen zum Erkennen, führen zur Liebe, führen zur Zeugung von Leben und zur Erschaffung dessen, was man erkennt. Erkennen bedarf, womit ich Humboldt wieder etwas rehabilitieren müsste, der Trennung des Erkennenden vom Erkannten, die vom einen die Sehnsucht zum anderen auslöst und durch das Erkennen überwunden wird; bedarf der Teilung des Kugelmenschen, bedarf des Hinausgetretenwerdens (oder des Hinaustretens) des Menschen aus der paradiesischen Einheit mit Gott. Erst dadurch, dass der Mensch sich von Gott löst, kann er ihn erkennen (ur-kennen) und ihm wieder näher rücken. Auseinandersetzung ist ein Schritt zur Erkenntnis: Aus-ein-ander-setzen. Wir müssen das, was wir erkennen wollen, aus einem in ein anderes setzen oder uns mit ihm oder von ihm aus einem in ein anderes setzen. Erkennen bedarf der Distanz, des Bruchs und sehnt sich nach Nähe, nach Rückkehr zum Abgetrennten, Verlorenen, Verstoßenen.
„Daher ist jeder von uns das Gegenstück eines Menschen, weil wir wie die Schollen aus einem in zweie geschnitten wurden. Ewig sucht jeder sein Gegenstück. [26]“
So trachtet Erkenntnis nach der Aufhebung der Gegensätze, die durch den Griff nach Erkenntnis aufgebrochen sind – zwischen Gott und Mensch, Geist und Materie, Leben und Tod, Mann und Frau; die dadurch entstehende Kluft wird durch das liebende Erkennen immer aufs Neue geschlossen, frei nach der coincidentia oppositorium des Nikolaus Cusanus[27].
6. Der Kreis des Erkennens: die Annahme
In seiner literarischen Interpretation des platonischen Gastmahls erblickte der im 15. Jahrhundert lebende Humanist, Philosoph und Theologe Marsilio Ficino in der Liebe die Überwindung des Todes, in dem jeder Liebende den Geliebten in sich aufnimmt und in diesem unsterblich wird, wie er selbst den Geliebten aufnimmt und in sich unsterblich werden lässt.
„Der Liebende gewinnt durch den anderen sich selber wieder. Jeder der beiden Liebenden tritt aus sicher heraus und geht in den anderen über; in sich selbst abgestorben, ersteht er im anderen wieder. Einen Tod nur gibt es bei der gegenseitigen Liebe, zweifach aber ist die Auferstehung. Denn es stirbt, wer da liebt, einmal in sich, indem er von sich selber lässt. Er lebt dann sogleich in dem Geliebten wieder auf, wenn dieser ihn mit der Glut seines Denkens aufnimmt. Ein zweites Mal aber lebt er auf, indem er sich endgültig im Geliebten wiedererkennt, frei von allem Zweifel, mit ihm identisch zu sein. O seliger Tod, auf den zweifaches Leben folgt.[28]“
Bei Jean-Paul Sartre finden wir die Liebe als Schöpfung des anderen durch den Blick:
„Wenn wir von der ersten Enthüllung des Anderen als Blick ausgehen, müssen wir anerkennen, dass wir unser unerfassbares Für-Anderesein in Form eines Besessenwerden erfahren. Ich werde vom Anderen besessen; der Blick des Anderen gestaltet meinen Körper in seiner Nacktheit, lässt ihn entstehen, erzeugt ihn, wie er ist, sieht ihn, wie ich ihn nie sehen werden. Der Andere besitzt ein Geheimnis: das Geheimnis dessen, was ich bin. Er macht mich sein, und eben dadurch besitzt er mich, und dieses Besitzen ist nichts anderes als Bewusstsein, mich zu besitzen.“[29]
„Kurz, ich identifiziere mich total mit meinem Erblickt-werden, um mir gegenüber die erblickende Freiheit des anderen aufrechtzuerhalten (....) insofern die Liebe ein Vorhaben ist, das heißt eine organische Gesamtheit von Entwürfen auf meine eigenen Möglichkeiten hin.“[30]
„Meine Existenz ist, weil sie gerufen wird. Diese Existenz wird, insofern ich sie übernehme, reine Hingabe. Ich bin, weil ich mich verschwende. Diese geliebten Adern auf meinen Händen existieren aus Güte. Wie gut bin ich doch, Augen, Haare, Brauen, zu haben und sie unablässig zu verschwenden in einer überströmenden Hingabe an diese unablässige Begierde, die der Andere zu sein sich frei macht. Während wir, bevor wir geliebt wurden, beunruhigt waren von dieser ungerechtfertigten Protuberanz, die unsere Existenz war, während wir uns als „zu viel“ fühlten, fühlen wir jetzt, dass diese Existenz in ihren kleinsten Einzelheiten von einer absoluten Freiheit übernommen und gewollt wird, deren Bedingung sie gleichzeitig ist – und dass wir uns selbst samt unserer eignen Freiheit wollen: uns gerechtfertigt fühlen, dass wir existieren. (...) Das ist also das reale Ziel des Liebenden, insofern seine Liebe ein Vorhaben, das heißt ein Ent-wurf seiner selbst ist, Dieser Entwurf muss einen Konflikt hervorrufen. Der Geliebte erfasst ja den Liebenden als einen Objekt-anderen unter den anderen, das heißt, er nimmt ihn auf dem Welthintergrund wahr, transzendiert und benutzt ihn. Der Geliebte ist Blick.“[31]
Durch Liebe erschaffen wir den anderen, geben ihm eine Seinsmöglichkeit, die er sich selbst nicht geben kann, nämlich so zu sein, wie wir ihn erkennen. Durch Liebe werden wir erschaffen, erhalten eine Seinsmöglichkeit, die wir uns selbst nicht geben können, nämlich so zu sein, wie wir erkannt werden. Das/die/der Erkennende und das/die/der Erkannte sind wie zwei gegeneinandergehaltene Spiegel, bei denen sich nicht mehr sagen lasst, was/wer sich im jeweils anderen spiegelt. Nicht die Sprache war vor dem Denken, nicht das Denken vor der Sprache, nicht das musikalische Ohr vor der Musik, nicht die Musik vor dem musikalischen Ohr, nicht die Henne war vor dem Ei, nicht das Ei war vor der Henne, und – gewagter – nicht Gott war vor dem Menschen, nicht der Mensch war vor Gott: Man kann vom einen zum anderen nicht linear, man kann vom einen zum anderen nur im Kreis denken. Ohne Mensch, der ihn erkennt und annimmt, kann Gott den Menschen nicht erkennen und annehmen; ohne den ihn erkennenden Mensch kann Gott selbst nicht sein, nicht jener Gott jedenfalls, den der Mensch erkennt, indem er an ihn glaubt.
Was ist Glaube? Er ist Annahme. Annehmen heißt, dass ich etwas nicht genau weiß, nur vermute. Ich habe den Mut, für etwas einzustehen, das ich nicht weiß, sondern nur vermute – das entspricht dem Glauben der Frühchristen, den Paulus in einem Atemzug mit Hoffnung und Liebe nennt:
„Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; / doch am größten unter ihnen ist die Liebe.“ ( 1 Kor 13,13)[32]
Annehmen ist zurückhaltender als vermuten, diskreter, vorsichtiger, aber auch zärtlicher, die Annahme behauptet nicht, sie nimmt an: Was ich annehme, lasse ich zu, lasse ich zu mir, nehme ich zu mir her an. Annehmen ist lieben. Kann ich mehr von der Wirklichkeit, Gott, dem Geliebten wissen, als das, was ich vermutend annehme und liebend an-nehme? Muss ich nicht zwangsläufig an-nehmen, um erkennen und lieben zu können? In der Annahme schließt sich für mich der Kreis: Annehmen ist Lieben ist Erkennen. Erkennen ist Annehmen ist Lieben. Lieben ist Annehmen ist Erkennen. Annehmen ist Erkennen ist Lieben. Martin Heidegger stellt eine ähnliche Beziehung zwischen Vermögen und Mögen, zwischen Zugetan sein, Zulassen und Zuneigen her:
„Der Mensch kann denken, insofern er die Möglichkeit dazu hat (…)Doch wir vermögen immer nur solches, was wir mögen, solches, dem wir zugetan sind, indem wir es zulassen. Wahrhaft mögen wir nur jenes, was je zuvor von sich aus uns mag und zwar in unserem Wesen, indem es sich diesem zuneigt.“[33]
Bei Paulus übersteigt die Liebe – die Annahme – übersteigt das Wissen und die Erkenntnis. Der Fluch, der über den Menschen durch den Griff nach dem Baum der Erkenntnis ausgesprochen wurde, wird in der Liebe aufgehoben – er hat größeres er-reicht.
„Und wenn ich prophetisch reden könnte / und alle Geheimnisse wüsste/ und alle Erkenntnis hätte / (...) / hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts.“ (1 Kor 13,2)
Die Ausgangsfrage war, wie die Erkenntnis des Höchsten mit dem Geschlechtsakt in einem Wort zusammengehört. Durch Erkenntnis und Liebe wird der Mensch selbst zum Schöpfer – des Geliebten, seiner Nachkommen, seiner Welt, seines Lebens, seiner Annahme von Gott; Lieben und Erkennen sind ein Überwinden der Kluft zwischen dem einen und dem anderen, zwischen Welt und Paradies, Gott und Mensch, Objekt und Subjekt, Mann und Frau. Liebe, auch körperliche Liebe, der Geschlechtsakt – Adam erkannte Eva, aber um wie viel klarer würde das Bild, wenn wir es aus der maskilistischen Sprache in eine feministische umdrehen: Eva erkannte Adam - ist schlicht die Aufhebung eines Gegensatzes durch die Annahme eines Menschen durch einen anderen. Erkennen bedarf der Distanz, braucht den Bruch, die Kluft, die Trennung – und sehnt sich nach Nähe, sucht die Rückkehr durch Annahme des Verlorenen, Abgetrennten. Erkenntnis ist das Aufheben der Gegensätze: wir setzen uns mit dem, was wir nicht wissen, aus einem in ein anderes, suchen es, versuchen es und nehmen es an.
Brandt, Reinhard: Philosophie. Eine Einführung, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2001
Ficino, Marsilio: Über die Liebe oder Platons Gastmahl, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1994
Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie erster Teil, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1971
Heidegger, Martin: Was heißt denken? In: Vorträge und Aufsätze, Teil II, 3. Auflage, Verlag Günther Neske, Pfullingen 1967
Kluge, Friedrich: „Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache“, 21. unver. Auflage, Walter de Gruyter, Berlin-New York 1975
Sartre, Jean-Paul: „Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie“, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 1993
Schmidt, Heinrich: „Philosophisches Wörterbuch“, neu bearbeitet von Schischkoff, Georgi, 22. Auflage, Alfred Körner Verlag, Stuttgart
Helmes, Günther, Köster, Werner: Texte zur Medientheorie, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2002
[1] Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Ausgabe 1979: S. 18
[2] Goethe, Johann Wolfgang, Faust. Der Tragödie erster Teil, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1971: S. 40
[3] Bibel: S. 20
[4] Bibel: S. 16
[5] Bibel: S. 20
[6] Platon: Das Gastmahl oder Von der Liebe, Rede des Aristophanes, Philipp Reclam jun., Stuttgart 1979: S. 56
[7] Platon: S. 57f
[8] Platon: 77
[9] Kluge, Friedrich, „Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache“, 21. unver. Auflage, Walter de Gruyter, Berlin-New York 1975: S. 440
[10] Kluge: S. 170
[11] Kluge: S. 364
[12] Schmidt: Schmidt, Heinrich, „Philosophisches Wörterbuch“, neu bearbeitet von Schischkoff, Georgi, 22. Auflage, Alfred Körner Verlag, Stuttgart: S. 432
[13] Schmidt: S. 433
[14] Schmidt: S. 433
[15] Schmidt: S. 176
[16] Schmidt: S. 177
[17] Helmes, Günther, Köster, Werner: Texte zur Medientheorie, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2002, S. 78
[18] Helmes, Köster: S. 85f
[19] Helmes, Köster: S. 85
[20] Helmes, Köster: S. 75
[21] Helmes, Köster: S. 87
[22] Brandt, Reinhard: Philosophie. Eine Einführung, Philipp Reclam jun, Stuttgart 2001: S. 21
[23] Brandt: S. 27
[24] Platon: S. 87
[25] Marx, Karl: Ökonomische-philosophische Manuskripte, 1844, in Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, zitiert aus Helmes, Köster, S. 104
[26] Platon: 57-58
[27] Nikolaus von Kues (1401-1464), Kirchenmann und Gelehrter, von 1450 bis 1464 Bischof von Brixen
[28] Ficino, Marsilio: Über die Liebe oder Platons Gastmahl, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1994: S. 69f
[29] Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Philosophische Schriften Band 3, Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 1993: S. 638
[30] Sartre: S. 640f
[31] Sartre: S. 649f
[32] Bibel: S.
[33] Heidegger, Martin: Was heißt denken?, zitiert aus: Vorträge und Aufsätze Teil II, Verlag Günther Neske, 3. Auflage, Pfullingen 1967, S. 3