Das Blitzen im Auge des Patriarchen
Die Ära Norbert Schweitzer – die Kraft aus der Begeisterung
Wenn Norbert Schweitzer einen Raum betritt, wenn er auf jemanden zugeht, wenn er sich vor seine Mitarbeiter hinstellt – dann gibt es einen Augenblick, in dem sich kaum feststellen lässt, ob er sich jetzt nach vorne werfen wird oder ob er erstarrt. Etwas Gebündeltes, Gesammeltes, Explosives steht dann da, als ob es mit großer Kraft zurückgehalten würde und jeden Moment losbrechen könnte. Die wenigen Bewegungen sind verhalten, abgebremst, fast nichts rührt sich und verrät die Stimmung – nur in den Augen blitzt es. Meistens ist es ein Blitzen aus Lust und Unternehmungsgeist, manchmal ein Blitzen, das den Donner ankündigt. Norbert Schweitzer ist ein Patriarch.
Der Erste unter den Stammesführern, bedeutete das Wort im Griechischen, später wurde es auf die orthodoxen Kirchenväter angewandet, mittlerweile ist die Interpretation dem Leben zugewandt: „Das Oberhaupt einer Gruppe, die sich durch familienähnliche, feste soziale Bande zwischen den Mitgliedern auszeichnet. Der Patriarch wird von den Mitgliedern meist bedingungslos respektiert und leistet im Gegenzug Fürsorge für die Mitglieder.“
Norbert Schweitzer ist in eine Welt hineingeboren, man könnte auch sagen: hineingeworfen worden, die in solcher Haltung eine Tugend sehen konnte, einen Glücksfall: dass der Patriarch nicht nur Respekt einfordert, sondern auch fürsorglich die Hand ausstreckt, dass das Blitzen in seinem Auge nicht nur zornig, sondern auch gütig und freundlich und aufrichtend sein kann. Vater Leo war schon so ein Patriarch – kaum erwachsen, schon genötigt, für eine Großfamilie zu sorgen, sich den Hintern absitzen auf einem Fahrrad, um Öle und Fette zu verkaufen im ganzen Land, später den Krieg zum Geschäft zu machen, um die Brüder im Krieg und die Eltern daheim zu versorgen. Wie Leo war Norbert Schweitzer nicht der Älteste, dem diese Rolle von Natur und Geburtsrecht (oder -pflicht) zugefallen wäre, sondern der Zweitgeborene von vier Geschwistern, der jüngere auch von zwei Brüdern. Wie im Leben von Leo geht manches im Leben von Norbert, als wäre da etwas weitergegeben worden vom Vater an den Sohn – das „Schweitzer-Gen“ nennt Norbert Schweitzer es selbst. Eine ungemein starke Identifizierung, die doch den Spielraum für die eigene Entwicklung nicht verliert, könnte man es psychologisch deuten.
Jugenderinnerungen sind ein guter Spiegel für das, was prägend ist für einen Menschen. Norbert Schweitzer hat einige Jugenderinnerungen, die ihn immer in der Rolle desjenigen zeigen, der es dem Vater zumindest gleichzumachen versucht, ja diesen womöglich zu übertreffen trachtet. In einer dieser Erinnerungen steht der kleine Norbert vor der Firma in Meran hoch oben auf einem Lastwagen, der gerade mit Ware beladen wird. Ein anderes Mal steht er im Werkanzug der Valvoline-Techniker stolz auf der ersten Bozner Mustermesse 1948 am Stand der Schweitzer Mercantile, während der Vater von der politischen Prominenz begrüßt, die Schweitzer-Ware bestaunt wird. So wird er noch oft dort stehen, irgendwann nicht mehr als sich aufreckender Pimpf, sondern als Patriarch des Schweitzer-Clans.
Der Patriarch ist aber, vermutlich, nur der eine starke Charakterzug des Norbert Schweitzer. Wenn er einen Raum betritt, wenn er auf jemanden zugeht, wenn er sich vor seine Mitarbeiter hinstellt – dann gibt es einen Augenblick, in dem man beinahe vermuten könnte, dass er schüchtern und zurückhaltend ist, dass er zögert, bevor er sich Mut macht und das Kommando übernimmt. Es wurde ihm ja nichts geschenkt. Die Firma vom Vater zu übernehmen, hieß, vorher sie zu retten – nicht gegen böse Konkurrenten, sondern gegen die Onkels, die man ja eigentlich mochte als heranwachsender junger Mensch. Der Konkurrenzkampf gegen die Brüder des Vaters, die im Zwist aus der Firma geschieden waren, hat – sagt er selbst – Norbert Schweitzer sicherlich auch geprägt. So etwas lehrt Vorsicht beim Vertrauen im Menschen, lehrt die vorausstürmende Begeisterung zu zügeln und zu beobachten: stimmt da alles auch wirklich oder könnte etwas schon im Argen liegen?
Als er volljährig wird – damals mit 21 Jahren – ist Norbert Schweitzer schon ein vom Wirtschaftsleben geschulter Mann: Er hat einen Konkurrenzkampf gegen die ehemaligen Partner bestanden, er hat Sicherheit gewonnen im Umgang mit Kunden, mit Geschäftsleuten. Er ist ungeheuer selbstbewusst, fast zu selbstbewusst für sein Alter. Als er zum Militär muss, sagt er zum Vorgesetzten, er habe leider nicht viel Zeit für sinnlose Dienste, er müsse arbeiten und er brauche täglichen Ausgang, um die Post für seine Firma zu erledigen. Packweise kommen die Auftragsunterlagen nach Bari in die Kaserne, packweise arbeitet er sie ab und schickt sie zurück nach Meran. Norbert Schweitzer hat zu diesem Zeitpunkt schon gelernt, kein Befehlsnehmer zu sein, sondern den Ton anzugeben – in der Kaserne tanzen auch Vorgesetzte nach seiner Pfeife. In seinem Freundeskreis ist er beliebt, aber man schmunzelt auch über ihn: „Der Norbert“, verrät Bruder Helmut, „war immer der, der alles zeigen musste – er ist mit seinem Auto aufgefahren, hat die Wagentür aufgerissen und gesagt, schaut’s, mein neues Auto ...“
Hätte er nicht jenen anderen Zug, eine beinahe demütige, zumindest beherrschte Bescheidenheit, die blitzschnell freilich wieder abgelegt werden kann, wäre er wohl öfter und härter auf die Nase gefallen, hätte er diese wohl zu hoch getragen. Wer schafft es schon, so jung so hoch oben zu stehen und doch nicht zu fallen, wenn er sich – zum schier sternengreifenden Selbstbewusstsein – nicht den Blick für den Boden erhalten hätte? In seiner Rede zum 80-jährigen Firmenjubiläum, zu seinem 50-jährigen Firmeneinstiegsjubiläum spricht er wie einer, der Dienen und Dienstleisten gelernt hat. Er dankt der „Kundschaft“ – ein herrlich altmodischer und zugleich so vornehm wertschätzender Begriff. Er dankt dem „Herrgott“ für Kraft und Gesundheit und Begeisterung, weil dies das wichtigste sei, was ihm mitgegeben worden sei, er dankt dem Bruder für die bisherige, dem Sohn für die jüngste und kommende Mitarbeit, er dankt der Familie, den Mitarbeitern, den Freunden, die man brauche. Und er gibt zu, wie mitgenommen er zuletzt gewesen sei und wie er jetzt wieder aufgeblüht sei, weil er die Unterstützung und die Nähe so vieler verspüren dürfe. Als berührendsten Moment der Jubiläumsfeier nennt er den Segen durch Altdekan Georg Peer, der schon 1973 das erste Naturnser Firmengebäude eingeweiht hatte und es sich nun trotz Schlaganfalls nicht nehmen ließ, auch die Ivoklar zu segnen.
Auch bei seinen großen Würfen, mit denen er Schweitzer Erfolgsgeschichte geschrieben hat, vergisst Norbert Schweitzer seine Helfer nicht: den Magazineur Werner Vonach, von dem er viel gelernt habe, ja der ihm wichtige Impulse vermittelt habe, damals als er den Schritt zum Ladenbau wagte; dann, als er den Radius des Unternehmens immer weiter zu ziehen begann, war es der große Heinrich Dustmann, der dem aufstrebenden Südtiroler Mut machte; und später, als die Schweitzer wegen der Südtiroler Tourismuskrise beinah selbst vor dem Aus stand, gab ihm der europäische Star unter den Ladenbauern, Architekt Eberhard Hancke, das Selbstvertrauen, um den ganz großen Markt anzugehen. Ohne den Hancke gibt er zu, hätte er zu manchem Unternehmen schlicht nicht den Mut, das Selbstvertrauen gehabt. Seine Leistung war es, die Kühnheit zu besitzen, genau diesen Hancke anzuwerben, als die Schweitzer beinahe vor dem Aus stand. Wenn andere aufgeben würden, geknickt wären, dann fährt ein Norbert Schweitzer nach Dortmund zum großen Heinrich Dustmann und sagt ihm, ich brauche jetzt nicht einen guten, sondern den besten Ladenbauer in Europa. Dustmann rät ihm den „Herrn Hancke“, der mit DULA groß geworden, diese mit groß gemacht hatte und nun eigene Wege gegangen war. Norbert Schweitzer schreibt dem Star unter den Ladenbauern nicht etwa einen Brief, ruft ihn auch nicht von Naturns aus an, um einen Termin irgendwann zu beantragen, sondern er fährt geradewegs nach Düsseldorf, ruft vom Hotel aus den Gesuchten an und sagt, er sei hier, er würde sich gern mit ihm treffen. Ein Jahr verhandelt er mit Hancke, macht ihm nichts vor, beichtet ihm alle Sorgen mit der Firma, träumt aber auch mit diesem von einem neuen großen Aufbruch. Hancke kommt um 1983 nach Naturns, bald holt er die Familie nach. Als Norbert Schweitzer ihn später einmal fragt, warum er eigentlich damals zugesagt habe, antwortet Hancke, die Firma Schweitzer habe ihn nicht interessiert, aber mit dem Norbert Schweitzer zu arbeiten – das habe ihn gereizt.
Das Unmögliche wagen, das zu tun, wovor andere abraten: nur 50 Prozent bei seinen Entscheidungen lässt Norbert Schweitzer der Vernunft, den Studien und den Beratern Raum, der Rest muss Herz sein; räumte er den Studien und den Ratgebern zu viel Bedeutung ein, verlor er oft die Freude. Das erste große Ladenbauprojekt der Schweitzer, als sie die neue Tischlerei in Untermais eingerichtet hatte, war das Kaufhaus X in Meran – mit 3800 Quadratmetern Verkaufsfläche für damalige Zeiten eine Bewährungsprobe. Um die Termine einzuhalten, musste sieben Tage lang 24 Stunden durch lackiert werden. Aber es ging gut.
Und doch war es nur ein Vorspiel, ein Probelauf für das Abenteuer, das Norbert Schweitzer – er kennt das Auftragsdatum auswendig – am 14. Dezember 1972 – in Angriff nimmt: die Cooperativa in Cortina, ein sechsstöckiges Kauf- und Warenhaus, über 5000 Quadratmeter Ladenfläche.
Das Projekt ist für Italien ein Meilenstein. 16 Firmen aus ganz Europa bewerben sich um den Auftrag, 15 von diesen legen komplette Planungsangebote vor, nur eine nicht – die Schweitzer. Norbert Schweitzer fährt statt dessen zwei Jahre lang einmal im Monat nach Cortina und trifft sich mit den Auftraggebern, versucht zu verstehen, was diese wirklich brauchen, hält den Kontakt. Als in der Papierflut der Ausschreibung der Überblick völlig verloren geht, rät Norbert Schweitzer dem Verwaltungsrat der Cooperativa kühn: „Schmeißt alles weg, ladet alle ein, für je 5 Einrichtungselemente einen Prototyp aufzustellen, dann werdet ihr wissen, wer für euch der beste ist.“ Nur sechs Firmen bleiben übrig, die ihre Muster liefern und aufstellen, diesmal macht Norbert Schweitzer mit – und erhält kurz vor Weihnachten 1972 den Auftrag. Was den Ausschlag gegeben haben mag? „Es war die Provokation“, glaubt er. Und wohl auch der freie Blick dafür, was der Kunde wirklich braucht.
Die Arbeit in Cortina ist ein Komplettauftrag mit einer Deadline: nächstes Weihnachten muss eröffnet werden. Norbert Schweitzer pendelt in diesem Jahr zwischen Bozen und Cortina, auf der alten Landstraße braucht er drei Stunden hin und drei zurück, um sechs Uhr früh bricht er auf, um eins, zwei in der Nacht kommt er heim. Sieben Tag vor der Eröffnung droht die Katastrophe – die Leute sind ausgebrannt. Binnen fünf Stunden wechselt Norbert Schweitzer die gesamte Mannschaft aus. „Haltet’s noch bis heute Nacht durch“, bittet er die Mitarbeiter, „morgen kommt Ablöse.“ Für Sonntag, den 16. Dezember 1973, ist der Eröffnungstermin festgesetzt, Punkt 10 Uhr. Während die Monteure das Kaufhaus durch die Hintertür verlassen, strömen schon die ersten Gäste herein. Es wird ein Riesenerfolg, 600 Besucher stürmen das Kaufhaus, da autofreier Sonntag ist, hatte Norbert Schweitzer für seinen Firma einen Bus organisiert. Auf der Heimfahrt bricht er zusammen und weint die ganze Strecke bis nach Meran durch – so viel Spannung fällt von ihm ab. Es ward vollbracht.
Mit La Cooperativa hat Norbert Schweitzer eine Visitenkarte in der Hand, die ihm rundum die Türen öffnet: Wer ein Kaufhaus möchte und etwas auf sich hält, geht zu Schweitzer: Demetz Macciaconi in Wolkenstein, Hellweger und Schweitzer in Welsberg, Sportler in Bozen, Elektro Mair in Bruneck, Lauben Zitt in Meran, Steger in Sand in Taufers, La Cooperativa in Pinzolo, Madonna di Campiglio, Tolmezzo, Spilimbergo, San Vito di Cadore, Hörtnagl in Innsbruck, Steinadler in Wörgl, Falch in Landeck. 1979 kommt mit Rinascente in Mailand auf dem Domplatz der nächste Durchbruch – 16 Rinascente-Filialen in ganz Italien folgen, unter anderem in Rom, Cagliari, Catania, Monza, Modena.
Es ist eine Schweitzer-Eigenschaft, im Erfolg nicht auf Weggefährten zu vergessen. Mindestens einmal im Jahr, entweder im August oder zu Weihnachten, besucht Norbert Schweitzer den Cooperativa-Direktor Mario Manaigo in Cortina. Bis auf ein einziges Stockwerk, in dem der Supermarkt erweitert wurde, ist das Kaufhaus noch immer unverändert, „kein Nagel wurde ausgetauscht“, der Direktor ist immer noch begeistert. Auf der Hinfahrt kehrt Norbert Schweitzer meist bei Franz Senfter ein, seinem Jugendfreund aus der Zeit, als Leo Schweitzer in Innichen mit Franz Senfters Vater verhandelte und die Buben vor dem Geschäft spielten.
Das Cortina-Abenteuer war – neben der Größe des Auftrages – auch logistisch eine Herausforderung. Denn mitten im Baujahr 1972 zog die Schweitzer auch noch um. Zuerst hatte man, da Untermais zu eng wurde für den expandierenden Betrieb, ein Grundstück in Burgstall ins Auge gefasst (bei Opel Biasi und der späteren Lana-Bau), das aber aufgrund einer Reduzierung der Ausweisung durch die Gemeinde zu klein war – Schweitzer verkaufte den bereits begonnen Neubau wieder weiter. Als Alternative bot sich die ehemalige Pappenfabrik in Lana an, eine Rückkehr zu den Wurzeln, aber da machte der mit Grund und Bozen knauserige Landesrat Alfons Benedikter der Firma einen Strich durch die Rechnung. Man riet ihnen, doch nach Naturns zu gehen, wo die Gemeinde eine neue Gewerbezone ausgewiesen hat. Über die Töll in den unteren Vinschgau zu ziehen, stieß zunächst auf eine Hemmschwelle, aber dann verstand man sich mit Bürgermeister Artur Debiasi auf Anhieb. Im April 1972 besichtigten die Schweitzer-Brüdern das Grundstück, ein paar Tage später unterzeichneten sie den Vorvertrag, im Juni begannen schon die Erschließungsarbeiten, im Dezember wurde übersiedelt. Anfangs musste die Halle noch mit Tüchern abgehängt werden, um darin arbeiten zu können, bevor sie ganz fertig war, die Verwaltung zog überhaupt erst ein Jahr später ein.
Fast mutet es wie ein Naturgesetz an, dass auf Höhenflügen der Sturzflug droht. Norbert Schweitzer scheint damit leben gelernt zu haben, wohl auch dies Teil des Familien-Gens, heißt es doch in einem kleinen Familienepos, dass die Schweitzer mal auf dem aufsteigenden, mal auf dem absteigenden Ast sind, ohne dass man ihnen aus dem Gesicht ablesen könnte, wo sie gerade stehen. Durch den Aufschwung nach dem Cortina-Coup war die Firma gewachsen, der Boom der Hotelbranche lockte zudem auf einen neuen, aber auf Schulden gegründeten Markt (siehe Schweitzer-Saga). Schweitzer wurde Opfer der Hochzinspolitik der späten 1970er und frühen 1980er Jahre, die viele Kunden zahlungsunfähig machte.
Selbst in den Strudel gerissen zu werden, davor bewahrte Norbert Schweitzer wohl seine andere Tugend, den Blick immer wieder auch auf den Boden zu richten, innezuhalten. Der König unter den Wirtschaftsberatern im regionalen Raum war damals Dario Canal. Wo er auftrat und eintrat, wurden aus Familienbetrieben große verschachtelte Unternehmen mit Finanzierungsgesellschaften und waghalsiger Geschäftsakrobatik – im Fall der Unternehmerfamilie Wierer, im Fall des Jägermeister-Importeurs Karl Schmid, im Fall des Schnalser Gletscherkönigs Leo Gurschler (auch ein Schweitzer-Kunde) endete es dramatisch, Wierer und Schmid gingen in Konkurs, Leo Gurschler zerbrach auch persönlich und nahm sich das Leben.
Dario Canal beriet auch Norbert und Helmut Schweitzer bei der Umwandlung ihrer Firma in eine AG 1972 und wurde Präsident des Aufsichtsrates. Als er den Vorschlag machte, mit seiner Finanzierungsgesellschaft Finalpina einzusteigen und die Schweitzer zur Nummer 1 in Italien zu machen, verfolgte Norbert Schweitzer zunächst die Pläne mit Interesse. Dann ließ er sein Gefühl sprechen: „Wenn wir das alles so machen, dann habe ich nicht mehr das Sagen, dann ist es mir lieber, Sie übernehmen die 100 Prozent und ich gehe.“ Und weil Norbert Schweitzer keine Absichten hatte zu gehen, sagte er nein. Canal warf ihm auf den Kopf zu, der dümmste und kurzsichtigste Unternehmer im ganzen Land zu sein („il più cretino, il più imbecile“), aber die Firma Schweitzer ersparte sich ein mögliches Desaster. „Der Tiroler isch halt so“, nahm Norbert Schweitzer die Vorwürfe mit Humor. „Rede mit allen“, hatte schon Leo Schweitzer seinem Filius eingeimpft, „aber am Ende entscheide du.“ Richtig oder falsch, das könne man oft vorher nicht wissen, ist die Weisheit, die Norbert Schweitzer aus seinem Stil gezogen hat, aber nicht oder nicht selbst zu entscheiden, sei immer falsch.
Die Schweitzer-Brüder scheuten auch ohne fremde Finanzierungsgesellschaft das Abenteuer des großen Marktes nicht. Ein mehrjähriger, harter Überlebenskampf auf einem rauen internationalen Markt begann, den Helmut daheim absicherte und den Norbert zu erobern sich aufmachte. Einen ersten Schritt hatte er – angeregt vom Unternehmer Rolando Benedick aus Lugano – ins quasi natürliche Expansionsgebiet einer Firma gewagt, die sich Schweitzer nennt: in die Schweiz. Mit dem Architekten Hancke im Boot, traute sich Schweitzer immer weiter. Als ein Fax aus Jeddah in Saudi Arabien eintraf, ging Norbert Schweitzer damit zu Hancke – „was machen wir damit“. „Wir machen es“, war die Antwort des Architekten. Es wurde ein nicht ganz ungefährliches, aber letztlich lohnendes Abenteuer (siehe eigenen Bericht). Zug um Zug dehnte die Firma ihren Aktionsradius aus – in die Schweiz, nach Österreich, nach Deutschland mit wachsenden Marktanteilen und Tochterfirmen, dann die Erkundung des Ostens.
Aus der Zusammenarbeit mit den Großen im Ladendesign entwickelte Norbert Schweitzer eine Idee. Er wollte kreative Köpfe zusammenführen, die immer imstande sein sollten, den Laden der Zukunft zu entwerfen. So entstand 1987 in der Schweiz die Interstore, zunächst als kreative Werkstatt gedacht – ein Dutzend Architekten und Designer als Partner, alle gleichberechtigt. Ein spannendes Unterfangen für Norbert Schweitzer, es wurde diskutiert, debattiert und kreativ gestritten, allein für die Entscheidung über das Interstore-Logo waren drei Sitzungen nötig. Nicht die größte, wohl aber die innovativste Ladendesign-Firma wollte man sein. Das kreative Chaos kostete freilich auch viel Zeit, allmählich tobte sich die erste Euphorie aus. Von den zwei Grundzügen des Norbert Schweitzer – dem Feuerwerk der Begeisterung und dem Innehalten und Absichern – war nun die zweite gefragt: Er führte die Interstore in Schweitzer Mehrheitsbesitz über, ließ sie eine Zeit lang ruhen und freute sich dann, als Sohn Bernhard ihr einen neuen Drive gab – als Kreativwerkstatt von Schweitzer.
Abenteuerlust und Bodenständigkeit, in Norbert Schweitzer sind die Gegensätze aufgehoben. Ob in Budapest, Moskau oder St. Petersburg – er behält sich seinen Stil bei, wenn er einen Markt erkundet, ist Globetrotter und doch überall Südtiroler. Er lässt sich die Namen von Ansprechpartnern sagen und fährt einfach hin, ruft vom Hotel aus an und ersucht um einen Termin: „Ich bin noch nie irgendwo hinausgeworfen worden.“ Die offene Art, das freimütige Bekenntnis, ich komme aus Südtirol, ich möchte mit Ihnen reden – wie ein „Sesam öffne dich“ funktionierte die Schweitzer-Methode in Ungarn, in Tschechien, in der Slowakei, in Russland. Norbert Schweitzer fuhr hin, nahm sich eine/n Dolmetsch und kontaktierte Unternehmer, die bald darauf Kunden oder Lieferanten waren. 20 Jahre lang – von der Gründung bis zur Überführung in eine neue Struktur – war Norbert Schweitzer führend in der Indexport tätig, die Südtiroler Unternehmen beim Erschließen neuer Märkte behilflich war; 20 Jahre war er Mitglied des Verwaltungsrates, drei Jahre als Vizepräsident, 14 Jahre als Präsident.
Mit Franz Senfter erforschte er auch den Markt China, mit diesem entwickelte er um 1996 die Idee von Einzelhandelgeschäften für Lebensmittel und Frischwaren im wirtschaftlich noch brachliegenden Reich der Mitte. Innerhalb von zwei Jahren reisten die beiden acht Mal nach China, knüpften Kontakte, unter anderem zu Mr Wang, arbeiteten Projekte aus. Während Senfter schon 1997 ein Vertriebsnetz für seine Speck- und Wurstwaren in China aufbaut, bläst Norbert Schweitzer alles ab. Wieder ist es der Südtiroler und noch mehr wohl der Schweitzer (mit tz), der in ihm siegt: „Es war eine faszinierende Erfahrung, aber ich bin mit der asiatischen Mentalität nicht zurechtgekommen, da ist es besser, man lässt die Hände davon.“ In Russland dagegen fühlte er sich – bei aller Unsicherheit des Marktes – auf Anhieb wohl: „Das sind Europäer, da zählt der Handschlag.“ Wagemut und Sicherheitsbedürfnis, das Blitzen in den Augen und das sichernde Stehenbleiben – alles Tun, alles Handeln des Norbert Schweitzer oszilliert zwischen diesen zwei Polen.
Unter den Südtiroler Wirtschaftskapitänen fallen die Schweitzer Brüder nicht auf den ersten Blick auf. Zuegg, Senfter, Seeber sind Namen, die geläufiger sind. Bei Schweitzer ist man zurückhaltender, wenngleich Familie und Firma auch international einen guten Klang haben – ob Kaufhausgrößen wie Piergiorgio Coin, ob Finanzgenies wie Hannes Androsch, ob Politiker wie der ehemalige tschechische Premierminister Vaclav Klaus, Norbert Schweitzer hat international beste Kontakte. Und im Land selbst ist die Schweitzer gut eingebunden in das Südtiroler Wirtschaftsgeflecht: Der frühere Sparkassenpräsident Josef Brandstätter war lange im Aufsichtsrat der Schweitzer, nun übt dessen Sohn, Sparkassenstiftungspräsident Gerhard Brandstäter, dieselbe Funktion aus. Mit Sparkassenpräsident Norbert Plattner ging Norbert Schweitzer in Meran zur Schule, er verblüffte diesen nachhaltig mit seinem Geschäftssinn beim Handeln im Schulhof, mit Bleistiften und anderem wertvollem Schülerbesitz. Trotzdem drängte sich Nobert Schweitzer im Who-is-who der Südtiroler nicht nach vorne. Erst 2007 wurde er in den Verwaltungsrat der Sparkasse berufen – eine Anerkennung zu einem Zeitpunkt, als er diese nicht mehr notwendig hätte.
Für die Südtiroler Politik ist Norbert Schweitzer kein leichter, aber ein geradliniger Gesprächspartner, der das offene Wort nicht scheut. Das zaghafte Verstreuen zu kleiner und zu vieler Einkaufszentren aufs Land ist ihm naturgemäß zu kleinkariert – das gehe am Kunden vorbei, drei wirklich große Zentren würden den Bedarf weit besser erfüllen, sagt er, der gelernt hat, mit den Augen und mit der Brieftasche des Kunden zu denken. Die Ausstattung der Indexport war ihm, gemessen an der Herausforderung der Globalisierung, die er kennt wie kaum ein anderer, bisher viel zu bescheiden, jetzt hofft er auf die Export Organisation Südtirol (EOS), die durch die Kooperation von Indexport und Handelskammer entstanden ist. Und noch mehr sorgt er sich aufgrund seines Einblicks in einige Branchen um die Existenz vieler kleiner Handwerksbetriebe. Manche Tischlerei stehe, fürchtet er, vor dem Aus, wenn nicht ein entscheidender Qualitätssprung gewagt werde. Da dies die Kleinen aber nicht alleine packen würden, schwebt Norbert Schweitzer ein Firmenpool vor. Globalisierung ist für ihn keine Gefahr, sondern eine Herausforderung: „Wenn die einen zu uns herein kommen, dann müssen eben wir hinaus.“ So wie Vater Leo seinerzeit aus Lana in die Täler hinaus radelte, so wie die Schweitzer aus Meran, Untermais, Naturns hinaus in die Welt gekommen ist.
Ist das noch steigerbar? Es gäbe noch viel zu tun und zu expandieren, habe ihm – so Norbert Schweitzer beim Firmenjubiläum in Naturns am 8. September 2007 – sein Sohn Bernhard begeistert gesagt. „Mach du“, habe er geantwortet. Die Übergabe von Vater und Onkel auf den Sohn und Neffen ist eingeleitet, wenngleich Norbert Schweitzer zugibt, sich nicht ganz so weit zurückziehen zu wollen wie seinerzeit sein Vater – das eine oder andere würde er schon noch gerne selber machen. „Indien zum Beispiel“, sagt Norbert Schweitzer, das würde ihn interessieren, kulturell vor allem, als Reise- und Erkundungsland, wenn die Gesundheit es zulasse. Auch als Markt? „Als Markt könnte man es“, denkt er laut, „vielleicht mitnehmen, wenn es sich ergibt“. Ein Land erkunden und dort Geschäfte machen, habe er immer schon verbunden, denn ohne die Kultur eines Landes kennenzulernen, könne man dort auch nicht wirtschaftlich Erfolg haben – „die Ostmärkte wurden von vielen viel zu sehr missbraucht“. Ein paar Namen und Adressen könnte er ja, wenn er nach Indien reist, vielleicht vorher heraussuchen. Und es blitzt wieder in den Augen.
Hans Karl Peterlini
P.S.
Dieses Porträt entstand in intensiven Begegnungen mit Norbert Schweitzer vor seinem frühen Tod am 12. November 2008; es wurde unverändert belassen – als Würdigung und Erinnerung an seine Schaffenskraft und visionäre Freude.