Hans Karl Peterlini
Von Zucht und Annahme des Menschen
Das „Mängelwesen“ Mensch in der Philosophie Arnold Gehlens und der psychoanalytischen Lehre Sigmund Freuds
Inhaltsübersicht
1. Historischer Rahmen: Gegenläufige Lebensläufe 1
2. Philosophische Kellerräume zweier Denkgebäude 3
3. Nachbesserungen nach dem Krieg 7
3. Schlussbetrachtung: Modell und Wahrheit 8
4. Literaturverzeichnis 10
Historischer Rahmen: Gegenläufige Lebensläufe
Am 4. Juni 1938 setzte „Prof. Dr. Sigmund Freud“ (1856-1939) seine Unterschrift unter eine Bestätigung, dass „Behörden und Funktionäre der Partei“ ihm und den Mitbewohnern im Haus Nr. 19 in der Wiener Berggasse „ständig korrekt und rücksichtsvoll entgegengetreten“ seien. An diesem Tag „durfte“ der jüdische Arzt und Begründer der psychoanalytischen Lehre nach der Zahlung der „Reichsfluchtsteuer“ in Höhe von 31.329 Reichsmark Wien verlassen und sich mit seiner Familie in Sicherheit vor dem Zugriff der nationalsozialistischen Häscher bringen.[1] Freud hatte sich lange der Auswanderung widersetzt, die vorübergehende Verhaftung seiner Tochter Anna brach seine Widerspenstigkeit. Es war – nachträglich gesehen – tatsächlich ein „Dürfen“: Vier der fünf Schwestern Freuds gelang die Ausreise aus Österreich nicht; sie wurden 1942/1943 in Konzentrationslagern ermordet.[2]
Die meisten bedeutenden Psychoanalytiker, die überwiegend Juden waren, hatten ab 1933 mit der Machtübernahme Adolf Hitlers und spätestens mit dem Erlass der „Nürnberger Rassengesetze“ am 15. September 1935 aus Deutschland fliehen müssen. So verließen die jüdischen Psychoanalytiker Rene Spitz, Erich Fromm, Franz Alexander, Siegfried Bernfeld, Robert Flies, Sandor Rado, Frida Fromm-Reichmann, Helene Deutsch und andere Deutschland und emigrierten großteils in die USA. Die Verfolgung richtete sich nicht nur gegen die Juden unter den Psychoanalytikern, sondern durchaus gegen die Psychoanalyse als von den Nazis abgelehnte Lehre vom Menschen. In Berlin wurden Freuds Bücher „wegen Verherrlichung seelenverderblicher Triebe“[3] verbrannt, was Freud mit noch ungebrochenem Sarkasmus kommentierte: „Was wir für Fortschritte machen. Im Mittelalter hätten sie mich verbrannt. Jetzt begnügen sie sich damit meine Bücher zu verbrennen."[4]
Nach dem Anschluss Österreichs 1938 kam Freud auch unter persönlichen Druck, und wieder ging es nicht „nur“ gegen den Juden Freud, sondern auch um seine Lehre: Eine psychologische Schule, die dem Menschen in seiner Natürlichkeit, Triebhaftigkeit und „Fehlerhaftigkeit“ zum Recht verhelfen wollte, kollidierte unweigerlich mit der nationalsozialistischen Doktrin vom perfekten, reinen Menschen; daran änderten auch manche Anbiederungsversuche „arischer“ Psychoanalytiker an das NS-Regime nichts (so vertrat Karl Müller Braunschweig die Theorie der Nützlichkeit der Psychoanalyse für den NS-Staat und setzte Karl Böhm Homosexuelle mit Kranken gleich[5]). Der Hass der Nationalsozialisten gegen die Psychoanalyse blieb ungelöscht und war, wie Theodor W. Adorno (1903-1969) 1959 schrieb, „eins mit dem Antisemitismus, keineswegs bloß, weil Freud Jude war, sondern weil Psychoanalyse genau in jener kritischen Selbstbesinnung besteht, welche die Antisemiten in Weißglut versetzt“ [6].
Freud erlebte das Schlimmste – den vollen, auch persönlichen Einblick in den Holocaust, den Tod seiner Schwestern in den Konzentrationslagern Theresienstadt und Treblinka – nicht mehr, er starb am 23. September 1939 im Londoner Exil, nachdem er einen befreundeten Arzt um Sterbehilfe gebeten hatte.
Ein Jahr später erschien bei „Junker und Dünnhaupt“ in Leipzig ein Werk, das so umfassend wie Freud, aber mit größerer Bestimmtheit und geringeren Zweifeln den Anspruch erhob, den Menschen verstehen und erklären zu können: „Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt.“ Arnold Gehlen (1904-1976) reihte sich mit großen wissenschaftlichen Ehrgeiz unter die „Klassiker der Philosophischen Anthropologie“[7] ein. Obwohl er in einem späteren Werk (1957) dezidiert jede Anleihe bei Freuds Tiefenpsychologie von sich wies („Vielleicht haben sich einige Leser schon darüber gewundert, dass unsere ‚phänomenologisch’, d.h. beschreibend vorgehende Sozialpsychologie keinerlei Gebrauch von den Denkmodellen der Tiefenpsychologie gemacht hat, ja ohne den weltberühmten Begriff des ‚Unbewussten’ auszukommen scheint“), finden sich in seinem Menschheits- und Kulturmodell deutliche Gravuren der Freud’schen Theorie.
Was Freud am Menschen bekümmerte und um eine Balance mit dessen Triebnatur ringen ließ, goss Gehlen in eine Denkform, die aus dem menschlichen Mangel eine Stärke und aus der Stärke die Notwendigkeit einer Zucht zum Stärkeren gewann. Mit einem Modell, das deutlich Grundzüge der um Menschenfreundlichkeit bemühten Freud’schen Trieb- und Kulturtheorie trägt, wandte sich Gehlen gegen das Schwache im Menschen und lieferte, in heutiger Sportsprache, eine der vielen Steilvorlagen aus der Wissenschaft für die Eugenik und den Reinheitswahn der Nationalsozialisten.
Obwohl Gehlen Freud in privaten Gesprächen wohlwollend zitierte, verleugnete er ihn in seinen Schriften, die während der NS-Zeit erschienen, weitgehend oder zitierte ihn negativ.[8] Und während Ideenlieferant Freud im NS-besetzten Österreich in persönliche Bedrängnis kam und um sein Leben und das seiner Familie fürchten musste, machte Gehlen in Nazi-Deutschland Karriere: 1933 trat er in die NSDAP und deren Lehrerbund ein, im selben Jahr beerbte er den von den Nazis „beurlaubten“ und zur Flucht genötigten Paul Tillich (1886-1965) seines Lehrstuhls an der Universität Frankfurt; 1934 erhielt er den Lehrstuhl für Philosoph in Leipzig, 1938 wechselte er als Professor an die Universität in Königsberg (Kaliningrad). Schließlich
kam er als ordentlicher Professor und zeitweilig auch als Institutsverstand in das von Freud verlassene Wien. Von 1941 bis 1942 arbeitete er für die Wehrmacht in Prag als Kriegsverwaltungsrat in der Personalprüfstelle des heerespsychologischen Amtes im NS-besetzten Prag. Gehlen trug sich mit der Idee eines Werkes zur „Philosophie des Nationalsozialismus“, doch blieb es beim Fragment; später führte er dies auch als innere Distanzierung vom Nationalsozialismus an.[9] In der allerletzten Kriegszeit wurde er – zunächst lange für unabkömmlich eingestuft – doch einberufen und im Krieg verwundet.[10] Gehlens Mitläuferhaltung ist ausreichend belegt; seine Verwandtschaft zum hohen NS-Spionageoffizier Max Gehlen muss daher gar nicht erst auf die Waagschale gelegt werden, dies würde – als Sippenhaftung – Gehlen nur mit den Waffen jenes Systems verfolgen, dem er seine wissenschaftliche Arbeit zumindest angepasst, wenn nicht angedient hatte. Sie spielt allerdings eine Rolle bei der Frage, warum Gehlen nach 1945 nach kurzer Ächtung mühelos die Entnazifizierung erreichte: Sein Cousin Max Gehlen hatte sich unmittelbar vor Kriegsende in den Dienst der Amerikaner gestellt, die auch Arnold Gehlen sehr gewogen waren. Bereits 1947 war er wieder ordentlicher Professor, und zwar an der von der französischen Militärregierung gegründeten Staatlichen Akademie für Verwaltungswissenschaften in Speyer.[11]
Die Fragestellung dieser Arbeit ist eine andere: Wie ist es möglich, dass Freuds Menschenbild in seiner Originalfassung den Hass der Nationalsozialisten auf sich zog, während es in der Gehlen’schen Variante den Nazis nicht nur genehm war, sondern die menschenverachtende Ausmerzung allen Schwachens durch die Nazis letztlich legitimierte? Wie kann sich ein Denkansatz so verästeln, dass er sich in die eine Richtung um Verständnis für „Abirrungen“[12], Perversionen und Abweichungen von der Norm bemüht, ja die Abirrungen und Perversionen im Normalen erkennt, während er in die andere Richtung möglicherweise unfreiwillig, aber nicht uneigennützig der Zucht des reinen, starken Menschen zu wissenschaftlicher Legitimation verhilft?
Philosophische Kellerräume zweier Denkgebäude
Weder Freud, noch Gehlen haben – was naheliegend ist – ihre Menschenbilder aus dem Leeren geschöpft; auf philosophischer Ebene wichtig sind für beide Anknüpfungen an Arthur Schopenhauer (1788-1860) und Friedrich Nietzsche (1844-1900). Bei Schopenhauer ist das Nicht-Vernünftige der menschlichen Natur der Wille, der in keiner (göttlichen) Vernunft mehr aufgehoben ist und in der Natur mit blinder Kraft waltet: Er ist damit die Quelle allen Leidens, dem Schopenhauer zur einzig möglichen Linderung ein asketisches, mitfühlendes Menschenideal entgegensetzt.[13] Nietzsche entscheidet sich aus ähnlicher Einsicht in die Natur des Menschen für die „unbedingte Bejahung“[14] des Triebwillens durch den Übermenschen. Der Psychoanalytiker Bernd Nitzschke zeigt Freuds Lösungsversuch auf: „Freud, in der Diagnose mit Schopenhauer und Nietzsche einig, sucht nach einem anderen [...] gangbaren Weg. Wenn die unterdrückte (Trieb-)Natur sich am Menschen rächt – als Exzess, als Krankheit oder Mangel –, dann helfen kein Schopenhauerscher Heiliger und auch nicht dessen unfromme Wiederkehr, Nietzsches ‚Übermensch’. Dann wäre
mit Freud zunächst einmal ‚Einsicht’ in die Realität des unbezähmbaren Wunsches gefordert; also doch Einsicht in das von Schopenhauer als ‚Wille’ angesprochene Stück Natur im Menschen selbst [Hervorhebungen i.O.]. Und aus solcher Einsicht wäre sodann die vernünftige Konsequenz des bewussten Verzichts zu ziehen, anstatt das Begehren nur zu verdrängen, denn als verdrängtes wirkt das Begehren unerkannt, von Vernunft nicht mehr begleitet, nur zerstörerisch und selbstzerstörerisch. Anstatt die Natur also zu verleugnen, wäre sie mit Hilfe der von Freud vorgeschlagenen Gesten therapeutisch zu kultivieren.“[15]
Wo Schopenhauer Verzicht empfiehlt und Nietzsche die Heroisierung auf die Spitze treibt, wagt Freude die Synthese „zu einem vernünftig humanen Umgang des Menschen mit sich selbst“[16]. Das Es Freuds (der ungehemmte, ziellose, ahistorische, fordernde Trieb als Lust- und Lebensprinzip) muss durch Anpassung, Triebaufschub, Kompromiss mit Normen (Über-Ich) mit der Realität abgeglichen werden. Oder griffiger, wie Freud selbst es postuliert hatte: „Wo Es war, soll Ich werden.“[17]
Das Freud’sche Strukturmodell findet sich – in leicht veränderter Architektur und Begrifflichkeit – fast exakt im anthropologischen Modell Arnold Gehlens wieder. Gehlen spricht von „einem ‚durchlaufenden Strukturmodell, das von den biologischen Ausgangsbedingungen (Instinkt, Trieb, Bedürfnis) bis zu den höchsten Kulturleistungen (Institutionen, Moral) reichen soll“[18]. Er übernahm von Johann Gottfried Herder (1744-1803) den Begriff vom „Mängelwesen“ Mensch und legte ihn seiner Theorie zugrunde. Der im Überlebenskampf stehende Mensch ist demnach „organisch mittellos“, ohne ausreichende natürliche Waffen, ohne ausgeprägte Angriffs-, oder Schutz oder Fluchtorgane und in seinen Sinnesleistungen den Spezialisten im Tierreich weit unterlegen.[19] Dieser organische Nachteil ist letztlich die große Chance zu dem freilich erst durch Leistung (Handlung) zu erreichenden Glück des Menschen: „Der Umweltgebundenheit und der Instinktsicherheit der Tiere entbehrend, muss er sich seine Existenzmöglichkeit durch die Bildung von Kultur erarbeiten.“[20] Auch da geht es also vom Es zum Ich, von der (schwachen) Natur des Mängelwesens Mensch zu dem die Natur beherrschenden Kulturwesen Mensch.
Die Ähnlichkeiten in der Struktur des Menschenbildes sind, so wie sie Gerhard Arlt schematisch darstellt, deutlich: Gehlens Struktur-Teile des Mängelwesens sind „Antriebsleben“, „Handlung“, „Institution“. Unschwer sind darin das Es, das Ich, das Über-Ich zu erkennen: Das Antriebsleben entspricht weitgehend dem Es Freuds, dem Triebleben. Durch die Handlung (Ich-Leistung) geht die Entwicklung von der Natur zur Kultur weiter, vom Es zum Ich, mit dem dritten Bezugspunkt: der Institution, den institutionalisierten Werten der Gesellschaft (Über-Ich). Zwischen Es und Ich waltet bei Freud die Zensur, die entscheidet, was verdrängt bleiben muss und was aus dem unbewussten Es in den bewussten Teil des Ich vorgelassen wird; ebenso liegt der Triebaufschub dazwischen. Bei Gehlen liegt zwischen Antrieb und Handlung der für den Menschen konstitutive „Hiatus“: „Er legt erst ein bewusstes Inneres frei.“[21] Was bei Freud das Realitätsprinzip ist – die Kompromissleistung des Ichs zwischen Es und Über-Ich – ist bei Gehlen die Objektivierung, das Handeln. Es führt vom Individuum mit seiner irrealen Innenwelt zur Institution, zur Gesellschaft. Wo bei
Freud die Regression zurück zum Es, zurück zum Lustprinzip führt, geht für Gehlen der Weg vom Außen- und Innenhalt des in der Institution gefestigten Menschen zurück in die irrationale Innenwelt des Individuums.[22]
Die wesentliche Fähigkeit des Menschen ist für Gehlen die Fähigkeit zum Handeln: „Er ist von einer einzigartigen [...] biologischen Mittellosigkeit, und er vergütet diesen Mangel allein durch seine Arbeitsfähigkeit [Hervorhebung i.O.] oder Handlungsgabe, d.h. durch Hände und Intelligenz.“[23] Die Leistungen, das Handeln des Menschen zielen zum einen auf Bewältigung der Mängelbelastung ab – sind also eine Entlastung – und schaffen zugleich „ganz neuartige Mittel der Lebensführung“[24]. Damit tritt der Mensch aus der Umwelt (die allein dem Tier bleibt) heraus und steht nun in der Kulturwelt: „Der Inbegriff der von ihm ins Lebensdienliche umgearbeiteten Natur heißt Kultur (Hervorhebung i.O.), und die Kulturwelt ist die menschliche Welt.“
Hinter der etwas schwülstigen Begrifflichkeit steht eine gedanklich messerscharfe Operation: Der Mensch wird aus der Natur herausoperiert, buchstäblich exkorporiert – und dies könnte die Schlüsselstelle sein, an der Gehlen – nach kräftigen Anleihen bei Freuds Strukturmodell – sein Denken in eine völlig andere Richtung wendet.
Zunächst bleibt Gehlen noch durchaus in Freuds Denkschema: Wo Freud Partialtriebe[25] sieht, in deren Kontinuum sich der große Lebenstrieb aufgliedert und die vom Ich bewältigt und integriert werden müssen, sieht auch Gehlen noch einen fließenden Übergang von „den bloß fristungsnötigen Minimaltrieben (Hunger, Geschlechtstrieb usw.) und den höheren Interessen an den konkreten sachlichen Umständen und Betätigungen für ihre dauernde und erfolgreiche Erfüllung“. Was Freud die „Sublimierung“ ist, ist Gehlen die „Entlastung“.[26] Ebenso wie Freud – unter dem Eindruck des 1. Weltkrieges – dem Liebes- und Lebenstrieb (Libido) einen Vernichtungs- und Todestrieb (Destrudo, Thanatos) entgegenstellt, spricht Gehlen vom „Zerstörungstrieb“, der ständig gehemmt werden müsse.[27]
Allein in der Sprache aber zeigen sich die Abweichungen: Wo Freud es in seinen „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ mit akribischer Sprache gelingt, in Inversion, Perversion, Konversion das Normale und im Normalen die Abirrungen aufzuzeigen, urteilt Gehlen über das Misslingen der Trieb-Integration in der Sprache der Nationalsozialisten: „Ein Mensch, der es aus pathologischen Gründen zu keiner weltzugewandten und dauertätigen Bedürfnisformulierung und Interessenarchitektur bringt, entartet [Hervorhebung des Verf.] im Überdruck des drängenden Antriebsüberschusses in selbstzerstörerischen Süchten.“[28]
Der springende Punkt: Mit dem Antriebsüberschuss, der – wenn nicht bewältigt – zur „Entartung“ führt, rechtfertigt Gehlen seine „Definition des Menschen als Zuchtwesen“ [Hervorhebung i. O.]. Nachdem Gehlen den Menschen aus der „Naturentwicklung“[29] ausgegliedert und damit der Evolution entzogen hat, unterstellt er ihn der Notwendigkeit von Zucht. So sehr Gehlen immer wieder zu Freud zurückschwankt und „die Zuchtbedürftigkeit“ und den „Formierungszwang“ auch Erziehung, Selbstzucht, Prägung durch Institutionen zur Bewältigung der Aufgaben des Lebens definiert, so sehr bricht er allein sprachlich – und dann auch in seinen Forderungen und Grenzziehungen – mit dem menschenfreundlichen Ansatz Freuds.
Wörtlich: „Weil der Mensch an sich selbst vor einer ungemein ‚belasteten’ Aufgabe steht, die er nur zugleich mit der Aufgabe seines Lebens, also tätig, durchführen kann, weil er in sich selbst eine Herrschafts- und Führungsgesetzlichkeit der Bedürfnisse und Interessen großzuziehen, sich in einem System orientierten Willens ‚festzustellen’ hat, deshalb sind ‚harmonistische’ Ansichten des Menschen, die diese ungemeine virtuelle Innenspannung verwischen, so falsch.“ Zwischen Schopenhauer und Nietzsche wählt Gehlen nicht Freuds Weg der Synthese, die das Es mit Kompromissen, aber ohne Vergewaltigung und Verdrängung ins Ich lassen will, sondern jene Interpretation Nietzsches, die einen neuen, seiner Schwächen bereinigten Menschen fordert.
Der „Inbegriff der Formierung“ ist für Gehlen die „Sittlichkeit“, die aber nicht allein ein kulturell gesetztes oder gewachsenen Normensystem ist, sondern „eine allein beim Menschen vorhandene biologische Notwendigkeit“.[30] In diesem Rückschluss der Zucht auf eine biologische Notwendigkeit (Ausgleich des biologischen Mangels zum Überleben) liegt die Gefährlichkeit des Menschenbildes Arnold Gehlens: Es liefert eine biologische Rechtfertigung für die Nachbesserung am unfertigen Menschen. Wie allen biologischen Metaphern (etwa die Verwendung der Artenentwicklung nach Charles Darwin als Grundmuster der menschlichen Gesellschaft) haftet auch dieser die Problematik an, dass sie leicht absolut gesetzt wird – was von der Natur verlangt wird, muss eben erfüllt werden.
Freud ist weniger entschieden: Er sieht in der Natur, aus der der Mensch kommt und der er entwächst, eine der drei Leidensquellen für den Menschen; die anderen zwei Leidensquellen sind die Hinfälligkeit seines Körpers (also ebenfalls Natur) und das soziale, kleine und große Beziehungsgeflecht, hinter dessen häufigem Misslingen wieder die (menschliche) Natur stecken könnte.[31] So stellt Freud denn auch den „Glückswert“ der Kulturleistungen des Menschen in Frage[32], sieht in ihnen wohl den Versuch des Menschen, dem Ausgeliefertsein gegenüber der Natur zu entkommen, andererseits aber auch ein Fangnetz neuen (am Ende oft neurotischen) Leidens[33]. Und an diesem Punkt kehrt Freud von der Theorie zum Menschen zurück, stellt sich auf die Seite einer schwierigen, aber berechtigten Glückssuche, deren Lösungen individuell und vielfältig sein müssten. Dem Menschen wird Freiheit eingeräumt – von der Auslebung bis zur Sublimierung des Trieblebens, und es scheint klar, dass die national-sozialistische Ideologie mit einer solchen Offenheit wenig Freude hatte.[34]
Bei Gehlen ist der Spielraum dagegen verschwindend eng. Die Notwendigkeit von Zucht hört nicht bei Sittennormen auf, sondern „zieht sich“, so Gehlen, „über den ganzen Menschen hin, es gibt im Physischen, Motorischen, im Trieb- und Affektleben, im Denken usw. überall gewollte Vollzüge, Willenserlebnisse“[35] (Gehlen verwendet Willen in diesem Zusammenhang explizit im Sinne Nietzsches als treibende Kraft zur Macht, also nicht als reine „Conception des Verstandes“, sondern in dem Sinn, dass „man den Menschen als ein System von Funktionen betrachtet, aus denen sich herrschaftliche, befehlende, gestaltende Kräfte herausheben, die
immer das Gebiet ihrer Macht mehren und innerhalb dessen immer wieder vereinfachen“[36]). Und noch einmal dezidiert das ganze Aufgabengebiet der Zucht:
„Dass der Mensch ein Zuchtwesen ist, hat noch eine weitere Bedeutung: die Formierung und geordnete Beanspruchung der Antriebe hat eine tiefe verzehrende oder züchtende Rückwirkung auf die vitalen Schichten des Menschen, so dass, mit Einschluss der Geschlechtsphantasie, beim Menschen die Physis zur Aufgabe wird[Hervorhebung i. O.].“ Die Missverständlichkeit ist durch das Hin und Her der Gehlen’schen Sprache zwar gegeben: Muss nun jeder einzelne nur seine Geschlechtsphantasie regeln, was ja auch schon ins Physische reicht, oder ist dem Menschen die Aufgabe gegeben, seine Physis immer neu zu züchten, um lebensfähig zu bleiben? Allein dass es eine Missverständlichkeit in einer solchen Frage geben kann, zeigt den Abgrund, an den Arnold Gehlens Menschenmodell führt.
Der Rassenlehre verweigerte sich Gehlen weitgehend dadurch, dass er den Menschen der Evolution entzogen sah, so dass ihm die Unterschiede zwischen den Rassen vernachlässigenswert schienen im Gegensatz zur unüberbrückbaren Kluft zwischen dem Menschen jeder Rasse und dem Tier[37]. Wohl aber kann seine Philosophie als Rechtfertigung gelesen werden für Experimente zur Verbesserung des Menschen und zur Verwerfung des Schwachen, sofern es sich nicht besser „züchten“ lässt.
Nachbesserungen nach dem Krieg
Nach dem Krieg bereinigte Gehlen sein wissenschaftliches Werk, um sich des Verdachtes eines NS-Philosophen zu erwehren.[38] Als drückte ihn schlechtes Gewissen, entfernte er auch manche Spuren Freuds aus seinem Werk. So nennt er in der 4. Auflage von „Der Mensch“ (1950) an einer Stelle, wo er 1940 noch auf Freud Bezug genommen hatte, nun plötzlich Ludwig Klages.[39] An anderen Stellen, wo es ihm offenbar günstiger schien, zitiert er dagegen Freud nicht mehr negativ.[40] Umgekehrt tilgte er an mehreren Stellen Friedrich Nietzsche aus dem Text, wo dessen Stammvaterschaft unangenehm wäre.[41] Die Bereinigungen an der 1940er-Auflage werden ohne großen Aufhebens vorgenommen, lediglich der knappe Hinweis „verbesserte Auflage“ im Impressum lässt auf Texteingriffe schließen.
Gehlen rechtfertigte sich gegenüber den Vorwürfen der Nähe zum Nationalsozialismus damit, dass er manche Position schon vor dem Kriegsende revidiert habe und dass er durch seine strikte Ablehnung von Antisemitismus und Rassenideologie große Risiken eingegangen sei, die er durch „einige ziemlich drastische nationalsozialistisch formulierte Sätze“(Eigendefinition Gehlens) besänftigen habe wollen.[42] Damit meinte er wohl Textpassagen, in denen von der „Durchsetzung germanischer Charakterwerte“, von der Tapferkeit als „erste der germanischen Tugenden“ oder davon die Rede war, dass sich in Deutschland erwiesen habe, wie ein „immanentes Zuchtbild imstande ist, tragende Grundsätze des Handels aufzustellen und durchzuführen, eine feste Organisation des
Wachstums und der Leistung des Volkes aufzustellen sowie notwendige, gemeinsame Aufgaben des Volkes anzuweisen“[43].
Die Selbsteinschätzung Gehlens, dass er in der Rassenbiologie – aufgrund der Ausklammerung des Menschen aus der Evolution und der Sonderstellung aller Menschen – über jeden Verdacht erhaben sei, stößt auch auf Widerspruch. So erblickte er hinter den abgelehnten Rassentheorien einen „Rassenmythos“, dem er nun doch wieder etwas abgewinnen konnte.[44] Es kann aber anerkannt werden, dass Gehlen das Rassensystem nicht sonderlich schätzte, weil es ihm einen unzureichenden Halt für das Mängelwesen Mensch bot. Sein Mittel für die Verbesserung des Menschen war die Zucht. Deren Befürwortung bezog er teilweise zwar auf Immanuel Kant, ließ aber offen, „ob man nicht doch lieber an [...]die Züchtungsphantasien der Nazis denken wolle, zeitweise wohl auch sollte“, so der Herausgeber der textkritischen Edition von „Der Mensch“ Karl-Siegberg Rehberg.[45]
Schlussbetrachtung: Modell und Wahrheit
Im Bekenntnis zur Zucht blieb sich Gehlen auch nach dem Krieg treu. Er hielt seine These einer Gefahr der „Entartung“ vor allem dort aufrecht, wo diese aus modernen Zivilisationserscheinungen drohe.[46] Gehlen stand weiterhin für ein politisch rechts angesiedeltes Menschenbild. Scharf grenzte er sich etwa von der 68er-Bewegung ab; in diesem Zusammenhang lieferte er sich ein Fernsehduell mit Theodor W.-Adorno, bei dem er angeblich den Gegner „mit distanzierter Kälte in die Rolle des naiven Idealisten zu drängen“ trachtete.[47]
Die ihres Gründers und Vaters verwaiste Psychoanalyse kam – wenn auch aus anderen Gründen – ebenfalls nicht unbeschadet durch den Nationalsozialismus. Zum einen war da die Korrumpierung durch jene, die eine Annäherung an Hitler versucht hatten. Zum anderen sieht Bernd Nitzschke eine bleibende Beeinträchtigung in der Zerstörung des „feingesponnen Teppichs aus jüdischem und nichtjüdischem deutschen Geist“, der die psychoanalytische Kultur lange ausgemacht habe: „Die unter Hitler ‚germanisierte’ Psychoanalyse und im Exil ‚akademisierte’ Psychoanalyse verlor so zum einen ihr gesellschaftskritisches Potential, dann aber auch vieles von dem, was Freud und dessen Kreis mit einer langen geisteswissenschaftlich-philosophischen Tradition verband.“[48]
Auch Freuds Menschenmodell ist nicht gefeit gegen missverständliche oder einengende Auslegung. Die Architektur des Es-Ich-Über-Ich etwa ließe auch eine von Freud nicht gewollte Hierarchisierung im Menschen- und Gesellschaftsbild zu: oben die Werte, die geistige Spitze, in der Mitte der Körper, das zur Verteidigung genötigte Heer, unten die Triebwelt, das ungebildete Volk. Allerdings hat Freud selbst sein Modell stets offen gehalten, immer wieder korrigiert und nicht über den Menschen, sondern in den Dienst des Menschen gestellt. Was immer die Psychoanalyse dem Ich an Aufgaben übertrug, nie durften diese im Dienste höherer Ziele gegen den Menschen gerichtet sein. Keine Religion, keine Lehre durfte für Freud über das ohnehin schwer mögliche, immer nur flüchtige Glück des Menschen gestellt sein.[49] Freud wählte eine eindeutige Standortbestimmung: nicht auf der Seite
irgendeiner Idee vom Menschen, sondern auf der Seite des leidenden oder getriebenen Menschen selbst.
Die Problematik von Menschenmodellen entsteht dort, wo sie absolut gesetzt und über den Menschen gestellt werden – wenn vergessen wird, dass es sich um ein Modell, nicht um die Wahrheit handelt. Dieser Gefahr sieht der psychoanalytisch ausgebildete Verhaltensforscher Georges Devereux grundsätzlich auch die Psychoanalyse ausgesetzt: „Freud, der am wirklichen Leben wirklicher Menschen interessiert war und wusste, dass ‚psychische Instanzen’ und Phantasien rein psychische [Hervorhebung i.O], Realitäten sind, die nur in den Köpfen wirklicher Menschen existieren, wäre das selbstverständlich erschienen. Er war zu klug, um einem Trugschluss durch Konkretheit am falschen Platz aufzusitzen. Einigen [Hervorhebung i.O] seiner Schüler, die – aus der ‚überlegenen’ Weisheit der Epigonen heraus – die Konstruktion abstrakter Modelle amüsanter finden als die Beschäftigung mit Menschen, erscheint das alles viel weniger selbstverständlich.“[50]
Werden Modelle für Wirklichkeit genommen, liegt die Versuchung nahe, dass der Mensch seinem Modell – wenn dieses Wahrheit wird – eingepasst werden muss: gestreckt oder zurechtgehackt im Prokrustes-Bett der Ideologie. Im Sinne einer „Historisch-kritischen Anthropologie“ ist dem Verständnis vom Menschen und damit auch dem Menschen selbst mit geschlossenen Systemen, die rasch zum Gefängnis werden, nicht geholfen, sondern nur mit einem offen bleibenden Blick auf vergangene und künftig mögliche „Menschenwirklichkeiten“[51]. Die Annahmen vom Menschen sollten – im Sinne von Bernhard Rathmayrs „Akzeptieren“ – auch ein Annehmen des, der Menschen sein.[52]
Literaturverzeichnis
Adorno, Theodor W.: Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit? In: Tiedemann, Rolf (Hg.): Ob nach Auschwitz noch sich leben lasse. Ein philosophisches Lesebuch. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997.
Arlt, Gerhard: Philosophische Anthropologie. Stuttgart: Metzler 2001.
Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten Texten der 1. Auflage von 1940. Teilband 1. Hg. von Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1993.
Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsychologische, soziologische und kulturanalytische Schriften. Gesamtausgabe, herausgegeben von Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2004.
Gehlen, Arnold: Ein Bild vom Menschen. In: Gehlen, Arnold: Anthropologische Forschung. Zur Selbstentdeckung und Selbstbegegnung des Menschen. Reinbeck: Rowohlt 1961.
Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (7. unv. Auflage).Wien: Franz Deuticke 1946.
Marinelli, Lydia (Hg.): Freuds verschwundene Nachbarn (2. Auflage). Wien: Turia + Kant 2003.
Nitzschke, Bernd: Das Ich als Experiment. Essays über Sigmund Freud und die Psychoanalyse im 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000.
Rathmayr, Bernhard: Die Frage nach den Menschen. Einführung in die Historisch-kritische Anthropologie. Skriptum der Universität Innsbruck: SS 2005.
Spierling, Volker: Kleine Geschichte der Philosophie. Große Denker von der Antike bis zur Gegenwart. München-Zürich: Piper Verlag 2004.
Internet
Eckhart, Arnold: Die Humanismuskritik Arnold Gehlens in seinemSpätwerk „Moral und Hypermoral“. Aus: http://www.eckhartarnold.de/papers/gehlen/node2.html#FN9, 18.4.2005
[1] Marinelli 2004: 44
[2] Marinelli 2004: 25
[6] Adorno 1997: 7-25
[7] Rathmayr 2005: 9
[8] Rehberg 1993: 887
[9] Rehberg 1993: 879ff. Vgl. auch: http://www.eckhartarnold.de/papers/gehlen, 19.4.2005
[10]Rehberg 1993: 879ff. Vgl. auch: http://de.wikipedia.org/wiki/Arnold_Gehlen ,15.4.2004
[11] Gehlen 2004: 642 (Nachwort des Herausgebers)
[12] Freud 1946: 25
[13] Spierling 2004: 260
[14] Nitschke 2000: 198
[15] Nitzschke 2000: 199
[16] Nitzschke 2000: 199
[17] Freud 1963: 235-289
[18] Arlt 2002: 133
[19] Gehlen 1961: 44ff
[20] Rathmayr 2005: 10
[21] Gehlen 1993: 426
[22] Arlt 2002: 132ff
[23] Gehlen 1993: 32
[24] Gehlen 1993: 36
[25] Freud 1948: 42
[26] Rehberg 1993: 776
[27] Gehlen 1993: 54
[28] Gehlen 1993: 62
[29] Gehlen 1993: 32
[30] Gehlen 1993: 428
[31] Freud 2004: 50
[32] Freud 2004: 55
[33] Freud 2004: 64
[34] Freud 2004: 50
[35] Gehlen 1993: 429
[36] Gehlen 1993: 434f
[37] Gehlen 1993: 89
[38] Rehberg 1993: 751ff
[39] Rehberg 1953:888
[40] Rehberg 1993: 755
[41] Rehberg 1993: 490, 755
[42] Rehberg 1993: 876f
[43] Rehberg 1993: 572f
[44] Rehberg 1993: 771
[45] Rehberg 1993: 781
[46] Gehlen 1993: 440
[47] http://de.wikipedia.org/wiki/Arnold_Gehlen ,15.4.2004
[48] Nitzschke 2000: 206f
[49] Freud 2004: 42f
[50] Devereux 1988: 258
[51] Rathmayr 2004: 90f
[52] Peterlini 2005: 8; der Hinweis erfolgt aufgrund der Ähnlichkeit zu Rathmayrs „Akzeptieren“; in einer Untersuchung über die Identität der Wörter für Erkennen und (auch körperlichem) Lieben in der Bibel (z.B. Gen. 4,1-3) fand der Verfasser eben im deutschen Wort „Annahme“ eine gemeinsame Klammer und ebenbürtige Korrespondenz: Annahme im Sinne von Hypothese als offene Form von Erkenntnis, die zugleich den Erkenntnisgegenstand (liebend) annimmt.