Zentraler Begriff in Volkans Narzissmus-Theorie ist – in Anlehnung an Otto Kernberg – die „Selbstrepräsentanz“ (im Sinne einer Selbst-Vorstellung), die aus der Organisation von situationsbedingten und zeitgebundenen „Selbstbildern“ entsteht und im Gegensatz zu diesen dauerhaft und relativ unveränderbar ist (Volkan / Ast: 14). Im Falle eines nicht gesunden Narzissmus ist der dominante Anteil der Selbstrepräsentanz entweder „grandios“ oder „vom Gefühl der Unterlegenheit geprägt“, wobei immer beide Gefühlskomplexe vorhanden sind, der eine an der Oberfläche, der andere im Schatten (Volkan / Ast: 16). Einer nach außen gerichteten grandiosen Selbstrepräsentanz entspricht eine verdeckte entwertete Selbstrepräsentanz, wofür Volkan und Ast das Gegensatzpaar des „grandiosen“ und des „hungrigen“ Selbst einführen (Volkan / Ast: 30). Menschen mit einer solchen „narzisstischen Persönlichkeitsorganisation“ (ein Begriff, den Volkan und Ast der „narzisstischen Persönlichkeitsstörung“ explizit vorziehen) zeigen eine „exzessive Bewunderung für und Vertrauen in die eigenen Kräfte, ihr Wissen und ihre körperlichen Eigenschaften“. Dies reiche vom „Gottes-Komplex“[1] bis zum „Nobelpreis-Komplex“[2].
Nach Volkan ist das Ich ein Konstrukt, das u.a. durch die Funktionen der Abwehr, der Wahrnehmung, der Aufnahme und Gestaltung von Beziehungen zu Objekten und zur Regulation von Selbstrepräsentation und Selbstwertgefühl definiert ist. Bei Menschen mit Gottes- oder Nobelpreis-Komplex setzt das Ich diese Funktionen (einschließlich der Abwehr) primär für die Aufrechterhaltung des grandiosen Selbst ein und vermeidet alles, was das übermäßige Selbstwertgefühl bedrohen könnte Volkan / Ast: 38f). Bei Menschen mit gesundem Narzissmus integriert das Ich libidinös und aggressiv besetzte Selbst- und Objektrepräsentanzen und hält Ambivalenzen aus. Es kommt zu Selbst- und Objektrepräsentanzen, die nicht mehr total gut oder total bös sein müssen, wobei immer auch nicht-integrierte, idealisierte und unerwünschte Aspekte der Selbst- und Objektrepräsentanzen aus früheren Spaltungsphasen erhalten bleiben, mit denen aber aufgrund der Ich-Reifung besser adaptiv umgegangen werden kann; sie können verdrängt oder projiziert werden (die „total guten“ auf Ziele, die ein Individuum mit seiner Gruppe teilt, auf Symbole seiner Kultur oder seiner ethnischen Zugehörigkeit, die „total bösen“ auf die Feinde seiner Gruppe; Volkan / Ast: 40). Hiermit nimmt Volkan seine gesellschaftspsychologischen Überlegungen vorweg, wobei er implizit von einer Wechselwirkung zwischen Individuum und Großgruppe (Volk, ethnische Gruppe) ausgeht. Die narzisstische Organisation findet im Subjekt statt, aber im Austausch mit der Gruppe. So sei das Umfeld entscheidend, auf wen gute oder böse Selbst- und Objektrepräsentanzen projiziert werden.
Ist keine Integration möglich, kommt es zur „Spaltung zu Abwehrzwecken“, etwa der Abspaltung böser Muttererfahrungen, damit diese die guten Muttererfahrungen nicht kontaminieren können. Der Spaltung dienen dabei auch alle anderen Formen der Abwehr (Verleugnung, Introjektion, Projektion, Idealisierung, Entwertung). Herrschen in Borderline-Persönlichkeitsorganisation bei der Spaltung primitivere Formen der Abwehr vor, so ist das klinische Bild der narzisstischen Persönlichkeitsorganisation durch die Mit-Verwendung reiferer Abwehrmechanismen abgemildert. Die dominierende Selbstrepräsentanz (das grandiose Selbst) ist zwar auch pathologisch, aber besser integriert als bei Borderlinern. In emotional intimen Beziehungen – wenn das äußere Objekt und dessen Repräsentanz entweder als unverzichtbare Unterstützung oder als unerträgliche Bedrohung wahrgenommen werden – treten die reiferen Abwehrmechanismen zurück, so dass die Spaltung dominiert (Volkan / Ast: 41). Dies kann nachvollziehbar machen, warum die narzisstische Symptomatik im öffentlichen Leben oft erfolgreiche Auslebungsformen findet, während sie im privaten Umfeld deutlicher sichtbar und schwieriger „lebbar“ wird (Volkan / Ast: 41). Eine andere Erklärung wäre, dass im intimen Bereich das stets ebenfalls präsente, nur verborgene „hungrige Selbst“ stärker zum Vorschein kommt.
Der „narzisstische Charakter“
Das Wechselspiel zwischen grandiosem und hungrigem Selbst äußert sich auf mehreren Ebenen (Volkan / Ast: 50f):
►Zwischenmenschliche Beziehungen:
- offen: in seichten Beziehungen Anerkennung suchen
- verdeckt: Unfähigkeit anderen zu vertrauen
►soziale Anpassung
- offen: charmant, erfolgreich
- verdeckt: nur oberflächliche Interessen an anderen
►Sexualität/Liebe
- offen: wirken verführerisch, ungehemmtes Sexualleben
- können nicht lieben
►Ethik, Werte, Ideologie
- offen: bescheiden, enthusiastisch für Ideale
- verdeckt: Ideale/Werte können beliebig wechseln
►Kognitive Ebene
- offen: wissen viel
- verdeckt: Wissen erschöpft sich in Trivialitäten, Lernfähigkeit ist beeinträchtigt
Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsorganisation sammeln ununterbrochen Ruhm, ob im Bemühen um einen Wissenschaftspreis oder um die „Bewunderung am Schwimmbadrand“; die Bewunderer werden gebraucht, aber nicht immer loyal honoriert, sondern oft zur Hebung des eigenen Selbst entwertet. Das versteckt nagende „hungrige Selbst“ verrät sich oft in der Sprache, etwa wenn jemand seine Leistung als „unglaublich toll“ anpreist und damit seine zur Schau gestellte Überlegenheit selbst als „unglaublich“ konterkariert. Oder jemand preist seine Schönheit, hält aber – für das noch ferne Alter – bereits ein Lager an Faltencremen bereit als Schutz gegen die zu erwartenden narzisstischen Kränkungen des Alterns. Ein Beispiel aus dem eigenen Erfahrungsbereich: Der Südtiroler Landeshauptmann Luis Durnwalder hat sich wiederholt als „Löwe“ dargestellt, der sehr wohl wisse, dass die „Hyänen“ über ihn herfallen werden, wenn er einmal Schwäche zeigen sollte.
Die sozial gefährliche Variante der narzisstischen Persönlichkeitsorganisation nennt Volkan den „malignen“ oder auch „sadistischen“ Narzissmus. Die Grundlage dafür
kann schon in der Kindheit gelegt werden, und zwar auf verschiedene Weise: etwa durch Idealisierung des Kindes durch eine entweder selbst narzisstische Bezugsperson (Mutter), die das Kind aber letztlich nur narzisstisch missbraucht und ihm mit Kälte begegnet; durch eine Bezugsperson, die ein Kind nicht um seiner Selbst willen liebt, sondern als Ersatz für einen schweren Verlust (ein verstorbenes Kind, einen verstorbenen Partner); durch „das ständige Erleben von Erniedrigungen in der Kindheit“. Diese prädisponierenden Faktoren können beim Erwachsenen zur „Erwartung erniedrigender Erlebnisse“ führen, wobei auch „konkretisierende Ereignisse“ in der Separations-Individuationsphase, in der ödipalen Phase und auch erst in der Adoleszenz“ eine Rolle spielen (Volkan / Ast: 94-96). Das neue „konkrete Erlebnis“ wird gesucht, „um das ursprüngliche konkrete demütigende Ereignis zu bewältigen“, womit Volkan eine Erklärung für den zuerst von Freud definierten „Wiederholungszwang“[3] bietet.
Die narzisstische Persönlichkeitsorganisation bedingt einen großen Energieeinsatz nicht nur zur Aufrechterhaltung des eigenen grandiosen Selbst, sondern auch zur Bestätigung desselben durch das soziale Umfeld. Es genügt nicht nur, dass man sich selbst für mächtig und schön hält, sondern glaubt auch einen Anspruch auf Anerkennung für die eigene Größe und Macht zu haben (S. 151). Daraus erklärt sich für Volkan und Ast das Streben narzisstischer Persönlichkeiten nach Führung, auch nur in kleinen Gruppen. Wo zwischen narzisstischer Einstellung und der Außenwelt Übereinstimmung herrscht oder erzielt werden kann, stellt sich das Phänomen des „erfolgreichen Narzissmus“ ein. Der Erfolg besteht darin, die äußere Welt entsprechend der inneren Forderung verändern zu können: „Erfolgreiche Narzissten verwirklichen ihre Grandiosität“ (Volkan / Ast: 152, Hervorhebung im Original).
Zwischen der Großgruppe im Sinne Volkans (einer Anzahl von Menschen, in der sich nicht mehr jeder kennt und die von äußeren Merkmalen wie Sprache, nationale oder staatliche Zugehörigkeit zusammengehalten werden, Volkan: 209) und narzisstischen Führern kann es zu komplementärer Ergänzung kommen. So können narzisstische Kränkungen der Gruppe (soziale Not, nationale Demütigung, Bedrohung von außen) den Aufstieg eines narzisstischen Führers erleichtern. Es kommt zu einem „Zusammenpassen“ der grandiosen Ambitionen eines Individuums und der Bedürfnisse seiner Anhänger (Volkan / Ast: 153-156). Dabei unterscheidet Volkan zwischen reparativen narzisstischen Führern, die das Niveau ihrer Gruppe heben, um von einem höheren Niveau aus bewundert zu werden, und destruktiven narzisstischen Führern, die Anhänger und/oder Außenfeinde bis zur Vernichtung entwerten müssen, um die eigene Grandiosität zu unterstreichen. Beispiele wären der türkische Staatsgründer Atatürk (reparativ) und Hitler (destruktiv).
Für die idealisierende Anerkennung des narzisstischen Führers durch die Großgruppe hält Volkan deren Regression für wichtig, wobei ein narzisstischer Führer diese – im Zusammenspiel mit politischen, sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen Faktoren – auch herbeiführen kann (Volkan: 207). Merkmale und Bestandteile einer kollektiven Regression sind:
- die übertriebene Reaktivierung von „gewählten Ruhmesblättern“ (Heldenmythen)
- „gewählte Traumata“ (Opfermythen)
- „Reinigung“ innerhalb der Großgruppe (Holocaust, ethnische Säuberung)
Im Folgenden soll versucht werden, die Überlegungen Volkans in Bezug zur politischen Mythologie und zu Momenten der Geschichte Südtirols zu setzen, um ihre Anwendbarkeit auf einen dem Verfasser dieser Arbeit vertrauten historisch-politischen Stoff zu erproben.[4] Diese Reflexion ist hier notgedrungen skizzenhaft und spekulativ, soll aber im Rahmen einer genaueren Untersuchung vertieft werden.[5]
Für diese Reflexion bieten sich die von Volkan genannten Momente/Elemente der kollektiven Regression als Ausgangspunkte an: Das „gewählte Ruhmesblatt“ in Südtirol/Tirol ist zweifellos der „Tiroler Freiheitskampf von 1809“ gegen die napoleonische Armee, der eine ständige Belebung erfährt (Andreas-Hofer-Feiern zum Todestag von Andreas Hofer am 20. Februar, Gedenkfeiern zu „runden Jubiläen“). Das Ruhmesblatt ist zugleich auch das vorrangig „gewählte Traumata“, da der Freiheitskampf der Abwehr eines Außenfeindes galt und schließlich, durch die napoleonische Übermacht und den als „Verrat“ empfundenen Friedensschluss des Kaisers in Wien, mit einer Niederlage endete, die als unverdient empfunden wurde und, wieder durch Verrat, mit dem Opfertod Andreas Hofers endete (Exekution nach unterlassener Flucht). Die 100-Jahr-Feiern des Freiheitskampfes 1909 könnten als eine „übertriebene Reaktivierung“ angesehen werden. Diese nährte sich einerseits an der sich abzeichnenden Instabilität der k.u.k. Monarchie und am aufflammenden, gegen die Trentiner Autonomiebestrebungen gerichteten Tiroler Nationalismus; andererseits gab sie der politischen Stimmung ihrerseits wiederum Nahrung. Nicht im physischen, wohl aber im symbolischen Sinne gab es auch „Reinigungsversuche“: deutschnationale Wanderungen in gemischtsprachige oder ehemals „deutsche“ Trentiner Gebiete mit dem Versuch, sprachliche und kulturelle Reinigungsakte zu setzen (zum Beispiel gegen Ortsnamen).
Angesichts der realen Macht des Faschismus, dem der bei Italien verbliebene Teil Tirols in den Jahren 1922-1943 ausgesetzt war, kann darin nur mit Vorbehalt ein „Wiederholungszwang“ erkannt werden. Einerseits widerfährt den Tirolern erneut das „gewählte Traumata“ der „Fremdherrschaft“; sie erleiden die selbst versuchte „Reinigung“ durch Übersetzung der deutschen Orts- und Vornamen, teilweise auch Familiennamen und Grabinschriften. Andererseits hatten sich unter Habsburg Deutschtiroler und Trentiner Nationalismus aneinander aufgeschaukelt, stehen Täter und Opfer – wie wohl oft – in einer Wechselwirkung, während unter dem Faschismus die Rollen von Täterschaft und Opfer klar verteilt sind. Eine zu klärende Frage ist, warum es in dieser Zeit nicht zur „Reaktivierung“ des „gewählten Ruhmesblattes“, also des Freiheitskampfes kommt. Fehlte die „narzisstische Führerpersönlichkeit“, die eine kollektive Regression mobilisieren hätte können? Der Einsatz der damaligen Führerpersönlichkeit, des Kanonikus Michael Gamper, war auf eine versteckte Verteidigung von Sprache und Kultur gerichtet (Katakombenschulen), nicht auf eine offene Konfrontation mit dem Aggressor. Zu Hitler, der sich als narzisstischer Führer sehr wohl anbieten hätte können, stand Gamper in Gegnerschaft. Und Hitler selbst war durch seinen Pakt mit Mussolini und seiner für die Südtiroler enttäuschenden Haltung zur Brennergrenze kein „passender“ Führer, da er die wichtigste Kränkung – eben die Abtrennung Südtirols von Tirol und Österreich – nicht „heilen“ wollte.
Trotzdem greift Volkans Modell gerade an dieser ambivalenten Haltung „der Südtiroler“ (was natürlich eine Vereinfachung ist) zu Hitler und zum NS-Regime. Ein Auslöser für kollektive Regressionen kann für Volkan ein Trauma sein, „das die
Großgruppen-Identität bedroht und Ängste, Erwartungen und Handlungsmuster hervorruft, die allen Angehörigen der Gruppe gemeinsam sind“. Als ein solches (später entsprechend verdrängtes) Ereignis kann die von Hitler und Mussolini 1939 vereinbarte „Option“ gesehen werden, mit der die Südtiroler vor die Wahl des „Gehens“ oder „ Bleibens“ gestellt werden, für die Auswanderung ins deutsche Reich oder dem Verbleib bei Italien. Die Auseinandersetzungen um die Option lassen sich leicht als Großgruppen-Regression im Sinne Volkans verstehen, bei der es „zu schweren Spaltungen kommt zwischen jenen, die dem Anführer folgen, und jenen, die sich ihm (meist heimlich) widersetzen“ (Volkan: 210). Tatsächlich tut sich eine, oft durch Familien gehende, Kluft zwischen Dableibern und Optanten auf, die zu Feindseligkeiten, Gehässigkeiten, Nachstellungen führt; für hoch 80 Prozent der Bevölkerung wird nun Hitler doch zum idealisierten Führer, dem man selbst unter Preisgabe von Haus und Hof Gefolgschaft leistet; die Mahnworte von Kanonikus Michael Gamper verhallen, schließlich bricht sogar der Widerstand der Kirche ein: Der Bischof schließt sich mit dem Satz, er müsse bei seiner Herde bleiben, den Optanten an und untergräbt den ohnehin erfolglosen Widerstand des Kanonikus. Die penible Bürokratie, mit der das Vermögen der Optanten geschätzt wird, auf dass es in der neuen Heimat genauestens ersetzt werde, könnte als Gegenseite jener zwanghaften Säuberung betrachtet werden, mit der das NS-Regime alles Unliebsame (die entwerteten Anteile der Selbst- und Objektrepräsentanzen seiner Führer und Anhänger) vernichtet. Dort die Verfolgung, Abschleppung und systematische Ermordung von Juden, Homosexuellen, Nomaden, Regimegegnern; hier die systematische Erfassung der Wertbestände der verlassenen Südtiroler Heimat (tatsächlich hieß die eingesetzte Behörde „Wertfestsetzungskommission“).
Das Erwachen aus der Regression leitete – mit der Kriegsniederlage 1945 und dem Verbleib Südtirols bei Italien – erneut eine resignierte, passive Phase ein. Ein erstes regressives Erlebnis dürfte die Großkundgebung auf Schloss Sigmundskron 1957 gewesen sein, bei der sich die Südtiroler einem neuen politischen Aufbruch mit einem neuen politischen Führer (Silvius Magnago) verschworen. Erst mit den 150-Jahrfeiern der Tiroler Freiheitskämpfe im Jahr 1959 folgt, selbstverständlich wieder im Zusammenspiel mit politischen und sozialen Faktoren (Ermunterung durch das wieder souveräne Österreich, Vorbild-Kämpfe in Algerien und Zypern, soziale Perspektivelosigkeit für die von den Höfen weichenden Erben), eine Reaktivierung der erwählten „Ruhmesblätter“ und Traumata: Zahlreiche spätere Täter des Sprengstoff-Aufstandes der 1960er Jahre fanden in Erlebnissen der 150-Jahr-Feiern (Andreas-Hofer-Spiele in Meran, Landesfestumzug in Innsbruck) geradezu mystische Antriebsmomente für ihre Kampfbeteiligung. Aussagen einzelner Aktivisten lassen durchaus eine kollektive Regression im Sinne Volkans, die das Individuum erfasst, erkennen. So spricht Sepp Innerhofer davon, dass das Mitwirken an den Andreas-Hofer-Spielen in Meran für ihn und seine Mitspieler so gewesen sei, als hätte man „dieses Stück gespielt, als sei es dabei um uns gegangen“; Siegfried Steger fühlte sich „von der Zeit, von mir selbst geschoben“. Die Frage, wie primäre Erfahrungen (im Falle Stegers ein Vater, der seinen Söhnen kaum Autonomie gewähren wollte) mit persönlichen politischen Erfahrungen (die Kulturverbote und Drangsalierungen durch die italienischen Behörden) und geopolitischen Ereignissen zusammenspielen, lässt sich im Detail kaum zwingend erörtern, bietet aber auch durch offene bleibende Antworten aufschlussreiche Erhellungen.
Zu den „Führern“, die Südtirol nach der „Verführung“ durch Hitler, hervorbrachte, lässt sich spekulativ sagen, dass sie – wohl zum Glück der Südtiroler – wennschon reparative narzisstische Führer waren. Nach Volkan (Volkan: S. 225) ist eine
„ausreichende Portion Narzissmus, ja selbst übertriebener Narzissmus [...] notwendig, um als politischer Führer etwas bewirken zu können. Es ist sein Narzissmus, der ihn sich wohlfühlen lässt in seiner Haut als ‚Nummer eins’.“ In diesem Sinne war Silvius Magnago, die Symbolfigur des Autonomiekampfes der Südtiroler ab 1957, gewiss eine narzisstische Führerpersönlichkeit, die sich im eigenen, schweren, zähen Kampf auch sonnen konnte, die letztlich aber eine Besserstellung der eigenen Bevölkerung, keine Vernichtung des Feindes oder von Feindgruppen wollte (und deshalb auch kompromissfähig war, als von römischer Seite ernsthafte Kompromisse angeboten wurden). Selbst der Anführer der Attentäter, Sepp Kerschbaumer, schreckte – anders als etwa sein interner Gegenspieler Jörg Klotz, der einen blutigen Guerrilakrieg wollte – vor einem Vernichtungskampf zurück. Der schon erwähnte Nachfolger Magnagos, Luis Durnwalder, konnte die „Landeshauptmannschaft“ zu einem Zeitpunkt übernehmen, als die narzisstischen kollektiven Kränkungen im Ausheilen waren und durch das neue Autonomiestatut weitgehende Sicherstellung geboten war. Er konnte seinen Narzissmus (der im internen Machterhaltsstreben sehr wohl auf Niederhaltung aller Konkurrenten und Gefolgsleute abzielt und damit auf entwertete, hungrige Selbstrepräsentanzen hinweist) nach außen an der Schaffung von Symbolen des Südtiroler Aufbruchs nähren: durch Schaffung stolzer Stätten eines neuen Selbstbewusstseins (eigene Universität, eigener Flughafen, Ötzi-Museum nach erfolgreicher Heimholung der Gletschermumie) betrieb er eine „Abnabelung“ vom „Mutterland Österreich“ und versuchte eine neue Südtiroler Identität zu stiften, die sich weniger an der Opfergeschichte, als vielmehr an einem neuen Erfolgsmythos ausrichtete. Dies erlaubt einen Parallelschuss zu Volkans Charakterisierung des türkischen Gründervaters Atatürk, der – laut Volkans Analyse – durch Modernisierung und Unabhängigkeit für sein „Mutterland“ auch Freiheit von seiner idealisierten, aber als bedrückend erlebten eigenen Mutter anstrebte. Beide „Führer“ der Südtiroler Nachkriegszeit verraten auch die entwerteten, hungrigen Anteile ihrer Selbst- und Objektrepräsentanzen: Bei Silvius Magnago war dies noch die Existenznot, die sich in Warnungen vor dem „Tod des Volkes durch Mischehen“ äußerte, bei Luis Durnwalder ist es – in der Metapher vom Löwen und den Hyänen – die Sorge um die Zeit nach seinem Machtverfall, die jetzt schon sein grandioses Selbst bedrängt. Es fällt schwer, in der metaphorischen Gegensetzung von Löwe und Hyäne nicht das narzisstische Gegensatzpaar des grandiosen und des hungrigen Selbst zu erkennen.
Volkan, Vamik D. / Ast, Gabriele: Spektrum des Narzissmus. Eine klinische Studie des gesunden Narzissmus, des narzisstischen-masochistischen Charakters, der narzisstischen Persönlichkeitsorganisation, des malignen Narzissmus und des erfolgreichen Narzissmus. Göttingen – Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht 1994.
Volkan, Vamik D.: Großgruppen und ihre politischen Führer mit narzisstischer Persönlichkeitsorganisation. In: Kernberg, Otto F. / Hartmann Hans-Peter (Hg.): Narzissmus. Grundlagen – Störungsbilder – Therapie. Stuttgart - New York: Schattauer 2006, 205-227
[1] Vgl. Jones, Ernest: The God Complex. In: Essays in Applied Psycho-Analysis, vol. 2, S. 244-265. New York: Inernational Universities Press 1973, S. 244; dt. Der Gottmensch-Komplex. Psyche 12. 1958/59: 1-17
[2] Vgl. Tartakoff, H.: The normal Personality in our Culture and the Nobel Prize Complex. In Psychoanalysis: A General Psychology, hg. Lowenstein, R.M; Newman, L.M. und Schur, M., S. 222-252. New York: International Universities Press 1966
[3] Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips. G.W. XIII: 69, zit. n. Laplanche, J. / Pontalis, J.-B.: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 1972. 627-631
[4] Die folgenden historischen Angaben stützen sich auf zeitgeschichtliche Arbeiten des Verfassers
[5] Angemeldete Diplomarbeit: Die psychoanalytische Deutung des Südtirol-Konflikts mit besonderem Fokus auf die Gewaltwelle in den 1960er Jahren