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Szene eines Prozesses

Versuch über das Malen und Berichten anhand der vier Evangelien und zweier Bilder von Caravaggio (Ecce homo und Die Kreuzung Petri)

 

 

Leseprobe

 

Karge Bühne, eventuell Maleratelier, auf der einen Seite, in gut einsehbarem Winkel zur Bühne das auf eine Plakatwand vergrößerte Bild "Ecce Homo" von Caravaggio, auf der anderen Seite - eventuell - dieselbe Szene mit Schauspielern besetzt, die zwischen den Erzählungen ruhen und ab und zu an auszuwählenden Stellen szenisch "aktiviert" werden, um die Erzählung mit- oder nachzuspielen.

Erzähler (mit ruhigem, distanzierten Ton, auf archivarische, auch in nebensächlichen Fragen genaue und Erzählweise): Ecce homo. Seht, der Mensch. Oder: Seht, ein Mensch. Der Unterschied ist von einer gewissen Bedeutung. Sie sehen ein Bild mit einem fast nackten, nur mit Lendentuch um die Hüfte umwickelten Menschen, die Augen geschlossen, das Gesicht aber nicht schmerzverzerrt, einen Dornenkranz um das leicht gesenkte Haupt, ein flaumiger Bart, nicht männlich herausfordernd buschig, sondern nachgibig schüttern und schüchtern. Kann man schwächlich sagen? Oder sanft? Auf jeden Fall nicht aufdringlich Männlichkeit vorzeigend. Der Typ ist kein Macho. Er gibt sich verhalten und fügsam. Der Körper ist nicht gestählt oder nach heutigen Vorstellungen trainiert, aber gehärtet und allen Fettes bereinigt von der Kargheit des Alltages.  (nachdenklich) Das Ostergelage war wohl eine schnell verdaute Ausnahme, hinweggeschunden mit den Sünden der Welt in den darauffolgenden Tagen von Einsamkeit und Gefangenschaft.

Erzählerin (tritt von hinten auf den Plan, gesellt sich dazu, gibt ihr Urteil ab, etwas verträumt):  Ein schöner Körper. Sehnig. Die Hure hatte Öl darüber geschüttet. Hände hatten danach gefaßt. Das Leiden der vergangenen Tage ist dem Körper nicht anzusehen, keine Zeichen von Schlägen oder Geißeln, nur zwei kaum sichtbare Blutspuren sind zu sehen, da an der Stirn, unter der Dornenkrone. Aber keine Schmerzverzerrtheit, das macht den Eindruck des Schmerzes stärker, weil er nicht auf den ersten Blick sichtbar ist, erst gesucht, erahnt werden muß in dieser anklagenden Wehrlosigkeit und Ergebenheit in das was ihm angetan wurde ...

Erzähler:  ... und werden wird. Wir stehen, meine Liebe, erst am Anfang der Geschichte. Madame haben recht, ein schöner Körper. Ein noch schöner Körper. Der schöne Körper ist verletzlich, weil er schön ist. Einem häßlichen Körper weh zu tun, glauben Sie mir, bereitet keine Freude. (einräumend)  Oder weniger. Ich sagte am Anfang der Geschichte, was freilich eine willkürliche Anhaltung einer Geschichte am Punkt X ist. Was vorher war, ist fixiert auf diesen Augenblick, was kommen wird, ist in ihn bereits hineingelegt. Nichts ist mehr abänderbar. Dem Mann sind die Hände gebunden. Von hinten legt ihm ein in braunen Sack gekleideter Brusche einen dunkelbraunen Umhang über die Schultern. Die Farbe, Madame, ist wichtig: Dunkelbraun, merken Sie sich das bitte. Die Krönung zum König der Juden. Die Verspottung des Königs der Juden durch die Krönung. Wie kommt ihnen der Bursche vor?

Erzählerin: Kühn, würde ich sagen. Das schmutzig-weiße Tuch um die Stirn gebunden, die zwei Federn, Hühnerfedern vermutlich. Er hat starke, sich im Säugen dereinst und im Verlangen derjetzt sich behauptende Lippen. Er hat das freche Wort und - mein Herr, skandalisieren sie sich bitte nicht - wohl auch den frecheren Biß. (wirft die Lippen leicht auf, legt den Kopf in die Schulter).

Erzähler:  Ein bemerkenswerter Unterschied zum Mann, dem er den Mantel umlegt. Dieser ist eher dünnlippig, auch diesbezüglich nicht fordernd, nicht nach Behauptung trachtend.

Frau (interessiert): Wer der junge Bursche wohl ist?

Erzähler (wieder protokollarisch:  Nach den geläufigsten historischen Berichten müßte es einer der Soldaten von Pilatus sein und jener da sein Gefangener. Aber leider ist das alles etwas unklar berichtet. Sehen Sie zum Beispiel, was Matthäus sagt:

(szenische Darstellung des Erzähltextes: Soldaten eilen herbei, fassen Jesus, darunter auch der Bursche, dann vollziehen sich in geraffter Darstellung die vom Erzähler begleitend geschilderten Handlungen):

Da nahmen die Soldaten des Statthalters Jesus, führten ihn in das Prätorium, das Amtsgebäude des Statthalters, und versammelten die ganze Kohorte um ihn. Dann flochten sie einen Kranz aus Dornen; den setzten sie ihm auf und gaben ihm einen Stock in die Hand. Sie fielen vor ihm auf die Knie und verhöhnten ihn, indem sie riefen (jetzt sprechen die Darsteller, skandierend): Heil dir, König der Juden. (Szene erstarrt)

Erzähler (weiterfahrend):  Markus schildert die Szene ähnlich, aber kürzer. Den Stock beispielsweise, Madam, stellen Sie sich vor, den Stock erwähnt er nur insofern, als ihm damit (Szene)  auf den Kopf geschlagen worden sei. (Szene erstarrt)  Noch schwieriger wird es mit Lukas ...

Erzählerin:  Erzählen Sie.

Erzähler:  Lukas verwirrt. Zunächst: (strenger, anmahnender Ton)  Er unterschlägt die Details der Mißhandlung. Sodann: Die Szene spielt sich nicht mehr bei Pilatus ab, sondern bei Herodes! Dieser hatte sich diesem Bericht zufolge zunächst gefreut, Jesus zu sehen, denn er hatte von ihm gehört. Nun hoffte er, ein Wunder zu sehen. Er stellte ihm Fragen, diesem Wanderer und Zauberkünstler, doch Jesus gab ihm keine Antwort. Die Hohenpriester und die Schriftgelahrten, die dabei standen, erhoben schwere Beschuldigungen gegen ihn. Herodes und dessen Soldaten (Szene: Soldaten zeigen mit dem Finger und strecken Zunge heraus,)  zeigten ihm offen ihre Verachtung. Er trieb seinen Spott mit Jesus, ließ ihm ein Prunkgewand umhängen (Szene: wie auf dem Gemälde)  und schickte ihn so zu Pilatus zurück (Szene: Packt Jesus und führt ihn zwei, drei Schritte ab, Szene erstarrt).  Verstehen Sie das Dilemma, Madam? Zu wem gehört der Bursche: zu Pilatus oder zu Herodes? Kommt er von Herodes zu Pilatus oder von Pilatus zu Herodes?

Erzählerin: Von Pontius zu Pilatus, sagt doch das Sprichwort.

Erzähler (jetzt leidenschaftlich geworden) : Nicht ablenken, Madame, es geht um die Rekonstruktion des Falles. Wo spielt sich die Szene ab, vor der wir stehen. Lukas ist leider zu ungenau, um die anderen Berichterstatter eines Irrtums überführen zu können. Er spricht von einem Prunkgewand, aber erwähnt die Farbe nicht. Die Farbe, Madame! Dieser Mann ist kein Kriminalist, er ist ein Psychologe. Er untersucht den Fall nach menschlichen Unter- und Hintergründen und geht auf die Täter ein. Ob Herodes oder Pilatus, ist da nicht so genau zu nehmen. Wichtig ist ihm: Die Tat vereint die Täter. (Bibel zitierend) An diesem Tag wurden Herodes und Pilatus Freunde; vorher waren sie Feinde gewesen.

Erzählerin:  Gibt es nicht weitere Berichte ... dieser .... dieser ...

Erzähler:  Johannes! Knapper als Markus und Matthäus in den Details, aber präziser als Lukas. (geht zum Bild hin) Der Mantel ist bei Johannes pupurrot, Madam, nicht dunkelbraun, wie auf dem Bild, das muß uns zu denken geben, auch wenn wir vielleicht nie wissen werden, was es damit auf sich hat. Aber es erlaubt einen Zweifel, an dem, was geschehen ist und vor allem, wie es geschehen ist.

Erzählerin (etwas ungläubig) Verstehe.

Erzähler: Johannes beschreibt die Schlüsselszene, die zu diesem Bild geführt haben muß, feiner als alle anderen: Nach der Verspottung, die nun eindeutig wieder Pilatus zugeschrieben wird, geht dieser zur tobenden Menge hinaus und kündigt einen an, an dem er keine Schuld gefunden habe. Er läßt Jesus nachfolgen. Und nun lenke ich Ihre Aufmerksamkeit erneut auf die Kleidung, Madame: Jesus trägt laut Jahnnes zu diesem Zeitpunkt in dieser Szene immer noch die Dornkenkrone und - den purpurnen Mantel! Leider stehen wir schon vor dem nächsten Widerspruch zu anderen Darstellungen. Pilatus sagt: Seht, da ist der Mensch. Er sagt also nicht, seht, der Mensch. Oder: seht, ein Mensch. Er sagt, seht, da ist der Mensch, von dem ich gesprochen habe. Das ist kein ecce homo sacral, es ist eine ecce homo banal.

Erzählerin: Ich verstehe. Ein Theaterdirektor schreitet vor dem zugezogenen schweren Vorhang auf und ab und kündigt der gespannt wartenden Menge den Auftritt eines Magiers an, der nur einen Fehler habe, nämlich, er könne gar nicht zaubern, sein Zauber sei einzig und allein sehe Wehrlosigkeit und Liebe zu den Menschen. Dann geht der Vorhang auf, der Magier steht dort bereit zu seiner tricklosen Kunst, mit einem Mantel umhüllt und einem Stab in der Hand, und der Theaterdirektor sagt: Seht, das ist der Mensch, den ich euch angekündigt habe. Die Menge buht.

Erzähler:  Genau! Diese Stelle ist hochinteressant. Es geht um die Frage der Verantwortung: Wir haben Pilatus, den Vertreter des römischen Weltreiches, und wir haben die Hohenpriester, die Vertreter der kirchlichen Macht. Wer hat den Mann ans Messer geliefert? Wir müssen, Madam, um es herauszukriegen, mit Messers Schärfe vorgehen. Laut Johannes tritt Jesus also mit Purpurmantel und Dornenkranz vor die Menge, die ihn dann als langweiligen Zauberer wieder von der Bühne jagt zugunsten eines wirklichen Magiers. Das entspricht der Chronik des Lukas, von dem wir gehört haben, daß Herodes Jesus in seinen Prunkgewändern zu Pilatus zurückgeschickt hat. Aber: Laut Markus und Matthäus nahmen die Soldaten Jesus die für ihn zu wertvollen, geliehenen Gewänder nach der Verspottung ab und zogen ihm wieder seine eigenen Kleider an. Also kann er nicht im Purpurmantel und von Pilatus geführt vor die Menge getreten sein.

Erzählerin:  Interessant, interessant!

Erzähler:  Moment. Markus und Mathäus stellen uns vor ein noch größeres Problem. Denn laut ihnen wurde Jesus nach der Verspottung nicht vors Volk geführt, weder in den Spottgewändern, noch in seinen eigenen Kleidern, sondern - direkt zur Kreuzigung. Sie werden mir zustimmen Madam, daß dieser Umstand von besonderer Bedeutung ist sowohl für den Tathergang, als auch für Tatverantwortung und - wie sagt man heutzutage - für den motivanalytischen Schlüssel.

Erzählerin:  Ich stimme Ihnen ... nein, ich bin dabei, die Übersicht zu verlieren.

Erzähler:  Es geht um dieses Bild. Vergessen Sie das nicht. Wie kommt es zu dieser Szene? Uns interessiert nichts anderes, wenn wir imstande sind, einen Augenblick, Madame, nur einen Augenblick der gesamten Geschichte dieses Kosmos zu verstehen, wo auch immer sie das Rad anhalten, wo auch immer sie die Zeit einfrieren, wenn es uns dann gelingt, diesen einen Augenblick bis in seine tiefsten Details zu verstehen, dann haben wir die Welt verstande, Madame, darum geht es es, um nichts geringeres, aber auch um nichts größeres. Der Fall an sich ist austauschbar, auch wenn es der größte Kriminalfall der Menschheit gelöst: Wer ist schuld am Tod von J. Ch.?

Erzählerin: Unglaublich ... interess ...

Erzähler:  Die Rekonstruktion kann am besten bei der Gefangennahme Jesu beginnen, da er ab diesem Augenblick der staatlichen Macht ausgeliefert ist. Die Angaben gehen natürlich auch bezüglich der Festnahme auseinander. So läßt nur Lukas Jesus dem Soldaten das abgeschlagene Ohr wieder anheilen, während er in den anderen Berichten den eigenen Gefolgsleuten lediglich befiehlt, die Schwerter wieder einzustecken, das Ohr liegt demnach ungerettet am Boden. Bei Markus will wenigstens einer der jungen Männer aus der Gruppe um Jesus seinem Herrn folgen. Als die Soldaten aber auch ihn packen wollen, läßt er sein Gewand fallen und rennt nackt davon.

Erzählerin: Interessant, interessant.

Erzähler:  Fürwahr, fürwahr, Madame. Aber folgen wir nun Matthäus: Jesus wird von den Soldaten zum Hohenpriester Kajaphas gebracht, bei dem sich die Schriftgelehrten und Ältesten versammelt haben. Bevor es dort weiter geht, gibt es draußen vor dem Haus den Auftritt von Petrus, der seinem Herrn nachschleicht, ihn dann aber verleugnet, als ihn die Mägde ansprechen. Merken Sie sich dieses Detail bitte, Madame, die Mägde. Drinnen im Haus schweigt sich Jesus indes beim Verhör durch Kajaphas und dem ganzen hohen Rat weitgehend aus, obwohl oder weil er mit einer Menge falscher Zeugenaussagen konfrontiert wird. Der Hohepriester fragt ihn beschwörend, ob er nun der Messias ist oder nicht, worauf Jesus ihn noch mehr zu Verzweiflung treibt, indem er nur doppelsinnig antwortet: Du hast es gesagt. Was heißt das? Daß er es ist oder nur daß der Hohepriester solches behauptet hat. Wie wird dieser Satz betont? Betonung auf Du, dann wirft Jesus nur die Frage zurück: DU hast es gesagt. Betonung au "hast es gesagt", dann gesteht er: Du HAST ES GESAGT.

Erzählerin (zum Bild schreitend, anerkennenden Blick auf Jesus werfend):  Ein raffinierter Angeklagter, er läßt alles offen.

Erzähler:  Genau. Er gesteht und er gesteht nicht, er legt alle Verantwortung in die Hand seines Richters und gibt diesem auch nicht die kleinste Hilfe. Gott hat die Falle aufgestellt, und der Mensch tappt hinein. Jesus sagt noch: Der Menschensohn werde zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen. Wieder ist die Antwort nicht klar: Hat er sich gemeint mit dem Menschensohn und wenn nicht, wenn dann? Der Hohepriester zerreißt sein Gewand. Hat man sowas schon einmal gehört. Aber welches Gewand? Das eigene oder das von Jesus. Der Mann hat ganz offenbar die Nerven verloren. Er zetert etwas von Gotteslästerung und davon, daß nun aller Beweis der Schuld Jesu erbracht sei, es brauche keine Zeugen mehr. Er fragt noch die Umstehenden, die ebenfalls bestätigen, daß dieser Mann schuldig ist. Sie spucken ihm ins Gesicht und schlagen ihn. Zum ersten Mal. Andere ohrfeigen und verspotten ihn, er möge ihnen, da er doch der Messias sei und ein Prophet sei, sagen, wer von ihnen ihn geschlage habe. Diese Passage ist etwas lückenhaft, weil der Erzähler nicht erwähnt, daß Jesus die Augen zugebunden wurden. Aber ohne zugebundene Augen, hat auch das Blinde-Kuh-Spiel keinen Sinn.

Erzählerin:  Zum Bild schreitend: Das Ganze muß doch dieser Szene vorausgegangen sein.

Erzähler:  Wenn wir das wüßten! Aber gehen wir der Reihe nach. Nun kommt ein Intermezzo von Petrus, der das Krähen des Hanes vernimmt und - merken Sie sich das bitte ebenfalls - bitterlich weint. Jesus wird an Pilatus ausgeliefert, Judas, der ihn verraten hat, will den Hohepriestern das Gelt zurückgeben, sie lehnen es ab, er erhängt sich. Täter Nummer 1 ist überführt, er verzweifelt an der Unmöglichkeit, die Tat rückgäng zu machen und richtet sich selbst. Nun wird Jesus von Pilauts verhört, gibt sich aber weiterhin einsilbig. Warum redet und verteidigt sich der Mensch nicht. Weil es die Schrift verlangt, die erfüllen will? Herrschaft, rede doch! Pilatus stellte es der Menge ohne eigenen Kommentar weitgehend frei, ob er Jesus oder Barrabas freilassen soll, wobei ihm der Berichterstatter sogar eine heimlich Vorliebe für Jesus anrechnet, was wiederum mit dem Rat seiner Frau zu tun habe, die wegen Jesus einen schrecklichen Traum gehabt habe. Aber was nützt so ein Traum, wenn sich der Mensch nicht selber hilft.

Erzählerin:  Er sieht so hingebend aus.

Erzähler:  In der Zwischenzeit gibt es, das ist einwandfrei festgestellt, eine handfeste Intrige. Die Hohenpriester und die Ältesten beeinflussen die Menge zugunsten von Barrabas. Pilatus Spiel, sich die Hände in Unschuld zu waschen, hätte sonst vielleicht aufgehen können. So aber liefert er Jesus damit der Lynchjustiz aus. Er versucht zwar noch der tobenden, "Kreuzigt ihn" rufenden Menge das eine oder andere Argument zu Gunsten Jesu entgegenzuhalten, gibt sich dann aber, als die Tumulte immer größer werden, geschlagen. Er erteilt den Befehl, Jesus zu geißeln und zu kreuzigen. Vorher aber gibt es nun die zweite Verspottung, einschließlich Purpurmantel und Stock, wobei ihm am Ende beides wieder abgenommen wird. Wir wissen noch um die Bedeutung von Stock und Mantelfarbe, aber wir vernachlässigen diese Details vorerst für eine zentrale Frage: Wann hat Pilatus in dieser Darstellung "ecce homo" gesagt, wo können wir unser Bild ansiedeln. Es wird, leider, von diesem Berichterstatter nicht erwähnt, aber es kann nur nach der ersten Verspottung geschehen sein, als bei der Auslieferung Jesu an die Menge. Zu diesem Zeitpunkt wird aber kein Mantel erwähnt. Und, Madame, wir können nicht leugnen, daß wir auf unserem Bild, das "ecce homo" benannt ist, eindeutig eine Szene dargestellt haben, wo dem Menschensohn ein Mantel umgelegt wird, nicht purpurrot allerdings, sondern dunkelbraun. Das ist unsere Schwierigkeit.

Erzählerin:  Und Markus, kann der Ihnen weiterhelfen?

Erzähler:  Leider wenig. Er stellt den Ablauf der Ereignisse fast identisch dar, außer daß am Ende des ersten Verhörs nicht nur die Hohenpriester, die Ältesten und "andere" auf Jesus einschlugen, sondern auch "die Diener". Markus ist der genauere Erzähler. So wissen wir zum Glück von ihm, wie das mit dem Blinde-Kuh-Spiel gegangen ist: "Nachdem sie ihn bespuckt hatten, verhüllten sie sein Gesicht, schlugen ihn und riefen. Zeig, daß du ein Prophet bist." Die Genauigkeit ist wichtig beim Erzählen. Wenn man genau ist, kann man auf das Ausschmücken vergessen und das Wesentliche weglassen. Was hat es für einen Sinn zu schreiben, daß Petrus "bitterlich" weint. Gar keinen. Bei Markus weint er, ich finde, Madame, das ist stärker. Das "bitterlich" lenkt ab. Reue und Ende des Judas werden hier übergangen. Bitte, der Mann hat doch keine Rolle gespielt, es geht um die Verantwortung zwischen staatlicher und kirchlicher Weltmacht, nicht um (fährt mit den Händen in der Luft herum)  um solche Nebensächlichkeiten. Und nur von Markus, Madame, wissen wir, was es mit dem Stock auf sich hat: daß er Jesus auf den Kopf geschlagen wurde. Was spielt sonst der Stock für eine Rolle, wenn er nicht die Aufgabe hat, einen Kopf zu treffen?

Erzählerin:  Ich gestehe, den Fall für aufregend zu finden.

Erzähler:  Das ist er, Madame. Aber wir sind von einer Lösung weit entfernt, je tiefer wir in ihn eindringen. Die Psychologie, Madame, natürlich ist sie eine Hilfe, natürlich sind wir dankbar für Lukas, den Psychologen. Er hilft uns die Täter zu verstehen, aber was nützt uns das, wenn wir nicht genau wissen, wer die Täter sind. Lukas spricht plötzlich - und als einziger! - auch von der Tempelwache, mit der er im Verhör mit den Hohepriestern rechtet: "Tag für Tag war ich im Tempel, und ihr habt nicht gewagt, gegen mich vorzugehen. Aber das ist Eure Stunde, jetzt hat die Finsternis die Macht." Das sind Ausschweifungen Madame, und natürlich weint Petrus jetzt wieder "bitterlich". Und wer schlägt ihn? Jetzt sind es auf einmal die Wächter. Von der Tempelwache ukommt Jesus laut dieser Rekonstruktion zu Pilatus, der von den Hohepriestern zu einer Verurteilung gedrängt wird, obwohl er selbst "kein Falsch an diesem Mann" sehen kann. Und nun kommt auf einmal Herodes ins Spiel, der sein Wunder einfordert, was Jesus verweigert und Herodes und dessen Wächter wiederum dazu veranlaßt, Spott mit und an Jesus zu treiben. Herodes ist es, der Jesus in Prunkgewändern - aber welche Farbe, Madame? - zu Pilatus zurückschickt, der ihn seinerseits mit dem Hinweis, auch Herodes habe ihn nicht bestrafen wollen, den Hohepriestern, dem Hohen Rat und dem Versammelten Volk präsentiert, indem er erneut für ihn Partei ergreift und mit Herodes Freundschaft schließt.

Erzählerin: Aber unser Bild, mein Herr, wo ist unser Bild einzuordnen.

Erzähler:  Ja, wo? Nach der einen Darstellung bietet Pilatus dem Volk an, Jesus nur auspeitschen zu lassen. Dieses lehnt ab und verlangt die Hinrichtung, worauf Pilatus ihnen Jesus den Mann ganz einfach übergibt. Ecce homo würde dann bedeuten, da habt ihr ihn, den Mensch. Aber das kann nicht unser Bild sein. Gemäß anderen Darstellungen geht nun Pilatus selbst daran, Jesus auspeitschen und kreuzigen zu lassen, wobei neben der formalen Schuldfrage, wer den Befehl zur Hinrichtung gegeben hat, auch die Unnötigkeit der Auspeitschung eines zum Tode verurteilten ins Gewicht fällt. Warum läßt Pilatus Jesus, den er zuvor schonen wollte, nicht nur kreuzigen, sondern auch noch auspeitschen? Können wir diesem römischen Beamten trauen? Jedenfalls würde nach dieser Darstellung Jesus ab dem Augenblick des Urteilsbeschlusses ausschließlich Pilatus und den römischen Soldaten gehören, während - Madame - die Männer auf diesem Bild eher nicht Römer, sondern wohl Juden sind.

Erzählerin:  Was hat das zu bedeuten? Hat der Maler geirrt?

Erzähler:  Vergessen Sie bitte nicht Madame, wir sind nur der Wahrheit dieses Bildes auf der Spur. Wir glauben, daß dieses Bild uns alles erklären kann. Der Maler irrt nicht. Der Maler sieht. Wir müssen uns daran halten, was wir sehen. Schauen wir uns die Szene, sagen wir, von der psychologischen Seite her an. So gesehen, Madame, würde das Bild gut in diesen Augenblick nach der Verurteilung passen, unabhängig davon, ob diese von Pilatus oder den Hohepriestern angeordnet wurde: Jesus wird verspottet, nachdem er schon verurteilt ist. Das würde die verhaltener Lust am Spott erklären, weil die Katze ja nur noch mit einer fast schon toten Maus spielt, ihr nur noch sanft die Pratze umlegt, während diese nicht einmal mehr zusammenzuckt und, den Tod erwartend, die Augen nach unten gesenkt geschlossen hält. Das Spiel der Katze kann der Maus nichts mehr anhaben, was kümmert einen Sterbenden der Spott der Lebenden. Der Spott der Lebenden über den Sterbenden wird zum leisen, traurigen Spott des Sterbenden über die Lebenden.

Erzählerin:  Ich bin fasziniert von ihrer Gabe, den Dingen einen Sinn zu geben.

Erzähler:  Nicht den Dingen, Madame, wir sind nur einem Augenblick auf der Spur, durch den wir hoffen zum Ganzen vordringen zu können, wie durch einen Tunnel durch die ganze Erdkugel hindurch, ins Universum hinein. Nur diesen Augenblick. Johannes! Sehen Sie: Er bringt Hannas ins Spiel, "der nämlich Schwiegervater von Kajaphas war, der in jenem Jahr Hohepriester war." Erinnern wir uns, wer Kajaphas ist: Es ist jener Mann, der angesichts der Aufwiegelung des Volkes durch Jesus noch vor dessen Verhaftung den Rat gegeben hatte: "Es ist besser, daß ein einziger Mann für das Volk stirbt". Über den Beschluß des Hohen Rates, Jesus gefangenzunehmen und beseitigen zu lassen, hatten auch die anderen Chronisten berichtet, aber nur Johannes erinnert zum Zeitpunkt der Tat noch an die Anstiftung. Sie gehört für ihn zur Tat. Ist ist Einheit zur Tat. Wie würden Sie das juristisch bewerten, Madame.

Erzählerin:  Anstiftung zum Mord, nehme ich an.

Erzähler:  Jawohl, aber denken Sie genau! Wenn der Mord ausgeführt wird, kommt es darauf an, von wem er ausgeführt wird. Wird er von Pilatus ausgeführt, dann war es Anstiftung zum Mord. Wird er aber von jenen, die dazu angestiftet hatten, selbst ausgeführt, dann war es vorsätzlicher, geplanter Mord!

Erzählerin:  Man müßte die mildernden Umstände untersuchen.

Erzähler:  Schauen wir uns diese Hannas an. Er fragt Jesus nach seiner Lehrer. Der Angeklagte gibt sich trotzig, er habe immer vor vollen Tempeln und nie heimlich gepredigt, also brauche er nur jene zu fragen, die ihm zugehört hätten. Laut Johannes ist es nun einer der Knechte, der Jesus ins Gesicht schlägt und ruft: "Redest du so mit dem Hohenpriester? Jesus antwortet: "Wenn es nicht recht war, was ich gesagt habe, dann weise es nach; wenn es aber recht war, warum schlägst du mich?" Es ist die einzige Stelle in der gesamten Berichterstattung, in der Jesus einen ordnungsgemäßen Prozeß verlangt - als wollte er dem Knecht jene Möglichkeit geben, die er allen anderen Anklägern verwehrt, nämlich ihren Irrtum einzusehen. Hannas schickt den gefesselten Jesus zu Kajaphas, seinem Schwiegersohn. Von Kajaphas wird Jesus, es ist frü am Morgen und der nächste Tag, zum Prätorium gebracht, also zu Pilatus. Sie bleiben vor dem Haus stehen, um sich nicht unrein zu machen, weshalb Pilatus vor die Tür tritt und nach der Schuld des Ausgelieferten fragt. Sie antworten zunächst allgemein: Wenn er keine Schuld hätte, würden wir ihn nicht ausliefern. Pilatus fordert sie auf, ihn nach ihren eigenen Gesetzen zu richten. Sie sagen, sie dürfen niemanden hinrichten, diese Schlauen, also soll er es tun. Pilatus geht ins Haus, das die Hohenpriester nicht betreten wollen und verhört Jesus: Ob er der König der Juden sei? Jesus treibt sein geschicktes Frage-und-Antwort-Spiel: "Sagst du das von dir aus, oder haben es dir andere über ich gesagt? Pilatus rechtfertigt sich: "Bin ich denn ein Jude? Dein eigenes Volk und die Hohenpriester haben dich an mich ausgeliefert. Was hast du getan?" Jesus geht auf Pilatus, der auf ihn eingegangen ist, nun ebenfalls ein: "Mein Königreich ist nicht von dieser Welt, wenn es von dieser Welt wäre, würden meine Leute um mich käpfen". Pilatus: "Also bist du doch der König der Juden". Jesus: "Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme." Pilatus: "Was ist Wahrheit?" Wir haben also eine völlig neue Situation: Jesus führt Pilatus nicht an der Nase herum, wie er es laut den anderen Berichten im Verhör mit den Hohenpriestern macht. Pilatus ist ratlos. Er geht vor die Tür, wo die Juden warten, und legt ein gutes Wort für Jesus ein, worauf sie schreien, nein, er soll Barrabas freilassen. Nun läßt Pilatus Jesus geißeln, aber wohl in der Hoffnung, ihn dadurch zu retten. Achten wir auf die Requisiten, die Pilatus zusammenstellen läßt: purpurroter Mantel, Kranz aus Dornen. Sie schlagen ihm ins Gesicht und sagen, "Heil Dir, König der Juden". Dann tritt Pilatus erneut vor die Tür, läßt Jesus herauskommen und sagt: "Seht, das ist der Mensch". Ecce homo. Sie schreien wieder: "Ans Kreuz mit ihm." Er fragt sie warum. Sie sagen: "Wir haben ein Gesetz, und nach diesem Gesetz muß er sterben, weil er sich als Sohn Gottes ausgegeben hat." Das ist ein rutschiges Parkett für einen römischen Heiden. Pilatus zieht sich erneut mit Jesus zum Verhör zurück und fragt ihn, woher er kommt. Jesus schweigt. Pilatus verweist darauf, daß er die Macht hat, ihn freizulassen oder zu kreuzigen. Jesus: "Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre; darum liegt größere Schuld bei dem, der mich dir ausgeliefert hat." Wen meint Jesus da: nur den armen Judas, den Hohenpriester oder jenen ganz oben, der glaubt, seinen Sohn ans Kreuz liefern zu müssen. Ein subtiler Satz, Madame, wir wissen noch nicht, wie dieser Prozeß ausgehen wird.

Erzählerin:  Warum gibt Pilatus nach, Jesus ist ihm doch sympathisch.

Erzählerin:  Vielleicht, aber so ein Statthalter hat es oft mit sympathischen Leuten zu tun, die er dann geißeln oder kreuzigen läßt. Er genießt die Macht. Jesus hat auf die Macht von oben verwiesen. Die Juden sagen zu Pilatus, er hat sich als König ausgegeben, wer das tut, ist gegen den Kaiser, wenn du ihn nicht kreuzigst, bist du auch gegen den Kaiser. Pilatus glaubt, daß seine Macht vom Kaiser kommt. Pilatus macht noch einen Versuch: "Euren König soll ich kreuzigen?" Die Juden: "Wir haben keinen König außer dem Kaiser." Da lieferte er ihnen Jesus aus, damit er gekreuzigt würde: ecce rex, seht, das ist euer König.

Erzählerin (sinnierend) Wir haben keinen König.

Erzähler: Ist das unser Bild, frage ich, Sie, Madame. Ich vertraue Ihrem Auge. Ich glaube, Ihr Auge kann alles begreifen, was dem Verstand nicht zugänglich ist.

Erzählerin: Der nackte König steht vor dem Burschen, der ihm den Mantel umlegen will. Der Bursche ist nicht wie ein Soldat gekleidet. Der Mann neben dem nackten König, der mit beiden Händen auf ihn zeigt, ihn zugleich an Ober- und Unterarm leicht berührt mit der Außenfläche der Finger, kann auch nicht Pontius Pilatus sein. Es ist fast zwangsläufig ein Hoherpriester. Er ist schwarz gekleidet und behutet und füllt mit seinem schwarzen Mantel das untere rechte Eck des Bildes aus, das damit ein Gegengewicht zum ebenfalls dunklen, linken oberen Eck und dem linken Bildran herstellt. Nur im oberen rechten Eck des Bildes ist der Hintergrund zu einem nicht ganz so finsteren Dunkelbraun aufgehellt. Das Licht kommt nicht aus einer bestimmten Richtung, es könnten, den Schatten nach zu schließen, von vorn oben kommen, aber das würde die unterschiedliche Helligkeit von praktisch nebeneinanderstehenden Figuren nicht gänzlich erklären. Das Licht - ja, es scheint aus den Figuren selbst in das Bild zu strahlen und stößt gegen diesen leicht graubraunen Holzbarren, der wohl eine Anklagebank darstellt. Ich glaube, mein Herr, auf dem Bild sind die Täter die Juden, entweder bei Herodes, aber dann müßten die Hohenpriester anwesend sein, oder direkt bei letzteren. Der Bursche, der einer der Wächter sein kann, legt ihm den Mantel um, der aber nicht purpurrot, sondern dunkelbraun ist. Jesus ist gefesselt, hält aber in der gefesselten rechten Hand einen Stock. Er trägt ihn, als hätte man ihm ein Zepter in die Hand gegeben. Das Bild verrät nichts darüber, ob er mit diesem Stock auf den Kopf geschlagen wurde oder wird. Er trägt keine Spuren der Geißelung am Körper, sonder nur zwei Blutwischer an der Stirn, vermutlich von der Dornenkrone. Er hat ein schmales, feines, entspanntes, wenn auch trauriges und wehrloses Gesicht. Der Bursche schaut ihn, während er ihm den Mantel umlegt, mit einer Mischung aus neugieriger und arroganter Interessiertheit von hinten in die Augenwinkel. Die Augen des Hohenpriesters, nach Lukas vermutlich Kajaphas, aber es könnte nach Johannes auch Hannas sein, sind ernst geöffnet unter hochgezogenen Augenbrauen unter einer vielfach gerunzelten Stirn. Der Hohepriester trägt einen buschigen, etwas zotteligen Schnur- und Kinnbart. Sein Gesichtsausdruck könnte auch von einem Versuch geprägt sein, Bedauern auszudrücken. Es wäre ein Bedauern, nicht anders vorgehen zu können, sehr wohl zu unterscheiden vom Bedauern des Pilatus, der sich die Hände wascht und schulterzuckend sagt, bitte, ich  habe mich bemüht, ihn ordentlich zu verhöhnen, zu demütigen und zu geißeln, aber wenn ihr wollt, bringen wir ihn halt auch noch um, ich bin nicht dafür. Der Hohepriester dagegen sagt sich: Wir müssen ihn umbringen, weil wir es für richtig halten. Die Hände, mit denen der Hoheprieser zum nackten Menschen hindeutet, scheinen Ecce homo zu sagen, womit auch die Urteilsbegründung ausgesprochen ist: Weil er gesagt hat, daß er der Mensch oder ein Mensch oder der Menschensohn oder ein König von dieser oder einer anderen Welt und als solcher Gottessohn ist, müssen wir ihn umbringen, denn, seht da, er ist nur ein Mensch. Nicht der Mensch, auch nicht der Menschensohn, schon gar nicht der König jener Welt und somit nicht Gottessohn, nur irgendein Mensch, ecce homo, wie sagten sie, nicht sakral, auch nicht banal mein Herr, sondern kleingeschrieben. Und während die beiden Hände solcherart zum Subjekt der Anklage und des Spottes hindeuten, werben die nach oben gedrehten Handflächen gleichsam um Verständnis. Berührt er absichtlich oder aus Versehen den Ober- und Unterarm des nackten Menschen? Was meinen, Sie?

Erzähler:  Ich glaube absichtlich, Madame, weil meine Theorie darin besteht, daß das Zufügen von Schmerz Lust bereitet. Indem der Hohepriester den Mensch berührt, dem er Schmerz zufügt, wird er innerlich von diesem Schmerz berührt ...

Erzählerin:  Eine reizvolle These - beißt sich wieder auf die Lippen -  wenn ich mir den Burschen anschaue. Er legt ihm den rauhen, groben Mantel sicher nicht zur Erwärmung, sondern zur Schmerzsteigerung auf den Rücken. Dort könnten sich die Spuren der Geißelung durch die geplatzte Haut graben. Während er ihm den Mantel umlegt, schaut ihm der Bursche von hinten in die geschlossenen Augenwinkel, vielleicht gespannt wartend, ob sein Opfer zusammenzuckt, wenn der rauhe Stoff die Schwielen auf dem Rücken berührt. Wenn es die Szene bei Herodes wäre, von der Lukas spricht - wobei freilich Herodes nicht zu sehen ist und zumindest ein Hoherpriester anwesend gewesen sein muß -, aber wenn es diese Szene wäre, dann sind sich die Wächter noch nicht ganz sicher, ob Jesus nicht doch, im letzten Moment, im Augenblick des tiefesten Schmerzes nicht doch ein Zeichen seiner Zauberkraft gibt. Die Grausamkeit der Katze rechtfertigt sich zu diesem Zeitpunkt auch von daher, daß sie noch nicht sicher weiß, daß die Maus wirklich wehrlos ist und außer einem schwachen Piepsen nichts mehr entgegenzusetzen hat, sich also nach dem ersten Pratzenschlag nur noch resigniert hinelgt, dann spiel halt mit mir, wenn es sein muß, mach es aber so schnell wie möglich. Diesen Moment auszureizen, bis die Gewißheit erlangt ist, er hat gar keine Zauberkraft, er ist nur ein Mensch, ecce homo, er kann sich nicht wehren, er kann uns nicht in der Luft herumwirbeln und seine Fesseln sprengen - das muß das höchste an Spannung sein. Es bereitet noch Lust, diesem Opfer wehzutun, weil man nicht weiß, ob es einen ihm nächsten Augenblick selbst zerreißt. Erst im nächsten Augenblick, wenn sie merken, er ist nur ein Mensch - bricht die Spannung. Jetzt könnte es sie reuen, ihn verspottet und gequält zu haben, aber nun ist es schon getan, die Maus liegt wehrlos verletzt am Boden, es muß ganz zugestoßen werden, ans Kreuz mit ihm. Es macht keinen Spaß mehr, aber man muß es zu Ende bringen.

 

(...)

 

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