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Dieses Vorwort ist tatsächlich ein Vor-Wort, entsteht nicht als feierlicher Akt am Ende eines Werkes, sondern versucht diesem – mit einer dürftigen Taschenlampe – den Weg zu leuchten, nicht nur den Leserinnen und Lesern, sondern auch dem Autor. Wohin kann ein Buch über die Südtiroler 60er Jahre, das 2005 erscheint, denn führen? 30 Jahre nach der Feuernacht 1961 wurden die Südtirol-Anschläge in Südtirol erstmals breit thematisiert, durch eine Artikelserie im Wochenmagazin „ff“ und durch eine Interviewserie im Sender Bozen der RAI, 1992 entstand daraus der zum Klassiker gewordene, vergriffene Buchtitel „Feuernacht“, bahnbrechend für ein über Eingeweihte hinausgehendes geschichtliches Verständnis; mit Hans Mayr und Gerhard Mumelter gebührt vor allem der 2005 verstorbenen Elisabeth Baumgartner das Verdienst leidenschaftlicher Pionierarbeit. Bis dahin waren die Südtirol-Attentate tabu gewesen, gehüllt in das Schweigen der Ächtung und der Scham jener, die von 1956 an Zeichen eines gewaltsamen Protestes gegen staatliche Gewalt gesetzt hatten – ein Freisprengen von Ohnmacht, angestauter Wut, Hilflosigkeit, Erniedrigung. Es gab die schmale wie Geheimliteratur weitergereichte Dokumentation über die Folterungen („Schändung der Menschenwürde in Südtirol“), die Klotz-Sagas von Karl Springenschmid und Robert H. Drechsler, es gab Peter Kienesbergers Bekenntnisschrift „Sie nannten uns Terroristen“, wertvolle Aufsätze und Broschüren (u.a. von Peter Mitterdorfer, Peter Paul Rainer), aber keine kritisch-historische Aufarbeitung, abgesehen von scharfsinnigen da und dort in seine Werke gestreuten Beobachtungen Claus Gatterers. Eine umfassende wissenschaftliche Sichtung des brachliegenden historischen Materials nahm sich erst Christoph Franceschini für seine Diplomarbeit am Innsbrucker Institut für Zeitgeschichte vor, die er bisher zwar nicht veröffentlicht, aber in Artikelserien für die Nachrichtenmagazine „profil“, „ff“ und „südtirol profil“ auszugsweise vorweggenommen hat.
Mittlerweile stapeln sich die Bände: die von Otto Scrinzi herausgegebene, detailstarke „Chronik Südtirol“, der an persönlichen Schicksalsschilderungen reiche Sammelband des Heimatbundes „Es blieb kein anderer Weg“, die profunde und aus menschlicher Nähe geschriebene Sepp-Kerschbaumer-Biographie von Josef Fontana und Hans Mayr, die fesselnde Würdigung von Jörg Klotz durch seine Tochter Eva Klotz, das Buch von Luis Obwegs über Luis Amplatz, die Beleuchtung der österreichischen Prozesse durch Franz Watschinger, Sohn des Feuernacht-Attentäters Rudolf Watschinger, schließlich der berührende Blick in die Familien- und Lebensschicksale durch einen Film („Die Frauen der Helden“) und ein Buch („Zersprengtes Leben“) meiner Frau Astrid Kofler, die darin erstmals auch die Verbindungen zur politischen Ebene beweisen konnte. Die 2005 ausgestrahlte, von Sender-Bozen-Koordinator Rudi Gamper gegen heftige Widerstände durchgesetzte Fernsehreihe „Bombenjahre“ von Christoph Franceschini und Helmut Lechthaler hat das Thema so massiv wie zuvor nur Felix Mitterers Spielfilm („Verkaufte Heimat“, Teil 3 und 4) in die Südtiroler Wohnzimmer gebracht. Eine Sonderrolle nimmt das dreibändige Monumentalwerk von Rolf Steininger ein, beeindruckend durch seine informative Dichte und die minutiöse Rekonstruktion des diplomatischen Wett-, Hürden- und Spießrutenlaufs um eine friedliche Lösung des Südtirol-Konflikts. Die Bedeutung dieser Arbeit wurde in der öffentlichen Debatte leider durch die von Steininger provozierte Polemik verstellt, dass die Anschläge nur geschadet hätten. Auch zu literarischem Stoff sind die Anschläge geronnen, bemerkenswerterweise zunächst durch drei Söhne von Beteiligten und Betroffenen: Walter Klier macht mit „Aufrührer“ einen frühen Anfang und setzt nun mit „Meine konspirative Kindheit“ nach, Karl Mittermaier verarbeitet in der Familiensaga „Und scheint die Sonne noch so schön“ auch die bisher verborgene Rolle seines Vaters, Stefan Tschenett spürt in „Feuernachtsmord“ der Haft des Vaters, dem Tod der Mutter nach. Mit genauer, zartfühlender Distanz skizziert Sepp Mall in „Wundränder“ das Zusammenspiel von Wortlosigkeit und Gewaltausbruch, von Idealismus und Missbrauch.
Was bleibt da noch zu erzählen? Die Geschichte der Südtiroler Bombenjahre ist geschrieben und sie ist nicht geschrieben. An spezifischer Literatur gibt es genug, einschließlich meines eigenen 1992 erschienenen Buches über die letzte Phase der Südtirol-Anschläge 1978–1988. Was fehlt, ist eine zusammenschauende Darstellung, die sich nicht in Details verliert (die Versuchung ist groß angesichts der spannenden Kriminalgeschichte der Attentate) und das bisher mögliche Wissen auf den neuesten Stand hebt. Das ist die schwer zu erfüllende Aufgabenstellung dieses Buches: Fakten zu ordnen und einzuordnen in den größeren Zusammenhang, Mythen zu entzaubern, Rätsel zu lösen oder zumindest zu erhellen, feststehende, falsch fixierte Bilder im Kopf neu zu zeichnen oder auch nur etwas schief zu hängen, um bisherige Sicherheit zu rauben. Jeder Versuch dieser Art, jede Ordnung geschichtlicher Ereignisse ist willkürlich, ist die Ordnung des Autors, wenn auch gestützt auf Recherche, Aktenstudium und Denkarbeit. In gewissem Sinne wird meine Ordnung eher eine Unordnung sein: Die saubere Trennung von guten Südtirolern und bösen auswärtigen Attentätern, von echten und falschen Helden scheint eher eine Konstruktion, geprägt schon von Claus Gatterer, der in der Frühphase der Anschläge zumindest Verständnis und Sympathie bekundete und später entsetzt abrückte. Sie diente wohl auch dazu, wenigstens einen Teil der Attentäter, einen Teil der Attentate von Verurteilung freisprechen zu können, um dafür den abgespaltenen, „bösen“ Teil umso gnadenloser ins Feuer zu werfen. Es führt in die Falle, das Gute immer bei einem selbst (Südtiroler verüben, wenn überhaupt, nur edle Anschläge), das Böse bei anderen anzusiedeln. Die Welt und das, was Menschen in ihr anrichten, ist nicht so einfach, und auch meine Ordnung kann keine einfache sein: Sie wird geschrieben in der Achtung vor Menschen, die ihr eigenes und anderer Leute Leben riskierten, verloren, auslöschten, die am Abgrund standen und nur mehr ihren Weg sahen. Das Buch ist der Überzeugung verpflichtet, dass politische Gewalt nicht gutgeheißen, wohl aber verstanden werden muss, weil sie nicht aus dem Nichts kommt und immer den Keim der Eskalation in sich trägt, so edel der Antrieb und so rücksichtsvoll der Beginn sein mögen. In der Bewertung der Anschläge geht es dem Autor nicht um die Frage, ob sie gut oder schlecht, sondern wie sie waren, warum es so weit kam, wie sie Gott sei Dank endeten. Der Sicherheit der meisten Beteiligten, dass es nur diesen Weg gab, wird keine gegenteilige Sicherheit, wohl aber das Nachdenken über andere Wege zur Seite gestellt. Manchem Mythos wird in die Fußnoten gestoßen, dem Gut-Bös-Mythos und auch jener Darstellung, die so schön wäre, wenn sie wahr wäre, nämlich dass es einen ganz edlen Südtirol-Kampf in reiner Form gab. Der Aufstand war, wie jeder Aufstand, von Anfang an eine Mischung aus Idealismus, Abenteurertum, Ohnmacht, Verletzung, Verzweiflung, Wut, die blind macht – eine solche Ladung lässt sich nicht kontrolliert zünden. Trotzdem hofft dieses Buch auf ein Happy End – mit Fragezeichen. Für manche waren die persönlichen Opfer zu schwer, manches Glück und manches Leben ist daran zerbrochen, manche tragen heute noch daran. Es gab Schwerverletzte, lebenslang Geprägte, Ermordete – auf beiden Seiten. Das Happy End ist das unendliche Glück eines Landes, die Kette der Gewalt durchbrochen zu haben – vorerst, denn endgültig erkämpft ist der Frieden nie, und nichts bedroht ihn mehr als dieser Trugschluss. Auch diesem Anliegen möchte das Buch dienen: Aufzuzeigen, wie politische Gewalt entsteht, wenn die politische Vernunft versagt, die nur im Mühen um Ausgleich, im Suchen gerechter Lösungen bestehen kann.
Hans Karl Peterlini, September 2005
Wie in echten Romanen
Das innere Drehbuch der Südtirol-Attentate An den Anfang
Der Roman erscheint 1959, und er müsste, bei aufmerksamer und kundiger Lektüre durch die italienische Polizei, zur Verhaftung des Autors führen: die „Etschland-Ballade“ [1]. In der Schilderung menschlicher Dramen in dem von Italien unterdrückten Südtirol, der Not von Bauern, denen ihre Scholle genommen wurde, des Hasses auf den Staat und seine Schergen, der Liebe, die sich mit pochendem Herzschlag nach Versöhnung sehnt und ins Herz getroffen wird, kündigt Autor Heinrich Klier genau jenes Attentat an, das Attentäter Heinrich Klier in der Nacht vom 29. auf den 30. Jänner 1961 zusammen mit Kurt Welser, Martl Koch, Alfons Obermair, Sepp Innerhofer und begeisterten Begleitern verüben wird.
Was im Roman misslingt und zu einer Kette von Gewalt und menschlicher Tragödie führt, wird 1961 zum gelungenen Auftakt eines Aufstandes gegen den Staat Italien, zum bis dahin stärksten, gewaltsamen Zeichen im Kampf um die Rückkehr Südtirols zu Österreich. Mit sensibler, gepeinigter Getriebenheit schildert Kliers „Etschland-Ballade“ das Gebräu, das da explodiert, – vom Riss zwischen Menschen, von innerer Wut, die sich Luft verschafft, vom Leben, das von seiner Zeit an den Rand gedrängt wird, von der unseligen Überlagerung menschlicher Abgründe und politischer Abreagierung. Sucht Robert, der tragische Held, den Hof, den ihm die Faschisten genommen haben, oder sucht er seine Liebe, die er in der Zeit der Option verraten hat, weil er sich von ihr verraten fühlte? Treibt ihn Hass oder Sehnsucht, ist er ein politischer Täter oder ein verzweifelter Liebhaber? Ist die Kugel, die Traudl dahinrafft, obwohl sie ihrem Aristide gegolten hätte, eine verdiente Strafe für die Liebe zu einem Italiener oder der Preis für die Gewalt, die sich zuvor an der Staumauer entladen hat?
All das wird, in diesem oder jenem Einzelfall, auch eine Frage sein, wenn Bilanz gezogen wird über die Attentate: Was ist da explodiert, was hat Menschen getrieben, nachts in die Berge aufzubrechen, um Masten zu sprengen, auf Kasernen zu schießen, Minen zu legen? Was bedeutet es, wenn die Attentäter, die im Namen des Herrgotts um das Recht einer Minderheit kämpfen, zugleich in nationalistischer Sprache vor dem Volkstod durch Mischehen warnen? „Soweit die Urheber es ehrlich meinen, krachen die Bomben und brennen die Autos, weil’s mit dem Südtiroler- oder mit dem Tiroler-Sein nicht mehr stimmt, weil ein Abgrund klafft zwischen dem tirolischen Bewusstsein und dem untirolischen Verhalten – eigentlich sprengen die Bombenleger ihre irrationale Untergangsangst in die Luft und zünden die Brandleger ihre Verzweiflung an“, schrieb Claus Gatterer 1981 in seiner Rede „Über die Schwierigkeit, heute Südtiroler zu sein“.[2] Was hat sich da entzündet in Südtirol anno 60? Was im Einzelfall, im Leben der Beteiligten wohl offen bleiben muss, findet auf politischer Ebene leichter, wenn auch keine leichte Antwort.
„Mir kommt es vor, als wäre ich von der Zeit geschoben worden, von mir selbst geschoben“, sagt Siegfried Steger im Rückblick auf seine Guerilla, die ihn von 1961 bis 1967 in die Berge trieb – zuerst ein blutjunger Bursch und Draufgänger, der es mit politischem Protest versuchte wie viele andere, dann einer der gefürchtetsten und gejagtesten Attentäter, der auf die Frage, ob er Menschenleben auf dem Gewissen habe, nachdenklich bekennt: „Ich weiß es nicht, ob ich jemanden getötet habe, es war ein Kampf, ein Freiheitskampf, es hat Tote auf beiden Seiten gegeben, um jeden tut es mir Leid, aber den Kampf haben nicht wir verschuldet.“ „Wir haben gespürt, was los ist in Südtirol“, sagt Siegfried Carli, der später einen anderen Weg geht und die Verschärfung der Mittel nicht mehr mittragen will. Ende der 50er Jahre aber lässt auch er sich begeistern, „wir haben ja gesehen, wie immer mehr Italiener nach Bozen kommen, etwas musste geschehen“.
„Etwas musste geschehen“ – das sagen alle Beteiligten, als wäre die Zeit auf Zündung programmiert gewesen. „Die Ohnmacht, die Hilflosigkeit, sich nicht wehren zu können, hat mich bewegt, etwas hat geschehen müssen“, sagt Franz Widmann, von dem man mittlerweile weiß, dass er ein politischer Verbindungsmann der Attentäter zu einem wichtigen nach Selbstbestimmung strebenden Flügel der Südtiroler Volkspartei (SVP) war. „Es war ein innerer Antrieb“, sagt Helmut Heuberger, einer der führenden Nordtiroler Köpfe und Hände des Südtirol-Aufstandes, „wir hatten das Gefühl, irgendetwas für Südtirol tun zu müssen.“ Wolfgang Pfaundler als einer der Ersten, Heinrich Klier, Kurt Welser, Günther Andergassen, das Ehepaar Herlinde und Klaudius Molling, auch die rechtsextremen und deutschnationalen Studenten um Norbert Burger spüren dasselbe, was in Südtirol Bauernbuben, Kriegsheimkehrer, junge Familienväter zu spüren glauben – dass etwas geschehen muss.
1959, als Heinrich Klier seinen Roman veröffentlicht, liegt das, was 1961 explodieren wird, bereits in der Luft: Es ist der Gesprächsstoff auf den Touren des Alpenvereins, in dem ein harter führender Kern der späteren Attentäter zu suchen sein wird. Im Alpenverein, oben auf den Gipfeln, wo die Grenzen aufgehoben sind, treffen sich Nord- und Südtiroler Bergsteiger und Kletterer, sie singen das Trutzlied, sie erkunden die Wege, die sie später gehen werden, um Masten zu sprengen und sich über die Grenze abzusetzen, Sprengstoff und Waffen zu verstecken, selbst Unterschlupf zu finden auf Schutzhütten und in Felshöhlen. Sie zucken zusammen, etwa Martl Koch, wenn sie fröhlich eine Schutzhütte betreten und es drinnen von lärmenden, wenn auch letztlich nur eben auch fröhlichen Italienern wimmelt.
In Meran werden 1959 die Volksschauspiele in Erinnerung an den Tiroler Freiheitskampf von 1809 gegen Napoleon, die Bayern und Sachsen gespielt. Nein, es wird nicht gespielt, es ist Ernst: „Wir haben dieses Stück nicht gespielt, wir haben es gelebt“, sagt Sepp Innerhofer, selbst auf der Bühne, „als ginge es um uns.“ Sepp Innerhofer und Sepp Mitterhofer in Meran, Franz Muther im Vinschgau, Jörg Pircher drüben in Lana, Luis Amplatz, Sepp Kerschbaumer, Martl Koch und Alfons Obermair in der Bozner Gegend, Josef Fontana, Hans Clementi, Luis Steinegger, Richard und Luis Gutmann, unzählige im Unterland, die Pusterer Buben, viele, viele andere – an die 200 Südtiroler, davon nur die Hälfte je entdeckt, spüren in diesen Jahren, dass sie nicht warten wollen, bis etwas „geschieht“, sie glauben, selbst etwas geschehen lassen zu müssen. Sie haben, wie Heinrich Klier sagt, „den Glauben verloren an die hohe Politik in Rom und vielleicht auch in Wien“. Sie greifen zur Gewalt, als wären sie von geheimer Hand geführt – einer nach dem anderen knüpfen sie Kontakte, die fast immer in Frangart in der Gemischtwarenhandlung des einfachen, aber nicht einfältigen, tief religiösen Sepp Kerschbaumer zusammenlaufen. In seinem Laden fragen die Aktivisten nach ihm, um dann nach hinten zu gehen, im nahen Gasthof „Schenk“ finden die Sitzungen statt. Spontan, ohne viel Lenkung und vielleicht auch ohne viel Denkung bildet sich eine geheime Kampftruppe, der Befreiungsausschuss Südtirol (BAS). Und zur gleichen Zeit werden in Nordtirol Hände gedrückt im Schwur, Südtirol zu helfen bei allem, was die Südtiroler glauben tun zu müssen, es wird geplant, gedacht, kontaktiert, gesammelt, geschmuggelt, finanziert – vom Sprengstoff bis zum Know-how, wie man so etwas macht. Das innere Drehbuch der Südtirol-Anschläge ist 1959, als Heinrich Klier seinen Roman veröffentlicht, schon geschrieben, klarer wohl, als es dem Romanautor bewusst gewesen sein mag – Südtirol steuert auf eine Entladung zu, mit tragischen Folgen, mit Blut, Tränen und im Roman mit keinem Happy End.
„Diese Geschichte beginnt 1918.“ Das ist ein Standardsatz von Hans Stieler, der ihn nicht loslässt, den zu wiederholen er in jedem Interview nicht müde wird. Durch den Kriegsausgang 1918 kommt Südtirol zu Italien. Zwar beginnt das nationale Knistern in diesem Gebiet zwischen dem welschen und dem deutschen Sprachraum nicht erst damit, aber jetzt trifft es die deutschsprachigen Südtiroler. Vorher hatten die welschen Trentiner, wiewohl im habsburgischen Großreich sprachlich gut geschützt, um ihre Eigenständigkeit gekämpft, jetzt gehört das bis 1918 fast ausschließlich deutschsprachige Südtirol von einem Tag auf den anderen zum Staat Italien. Es ist bemerkenswert, dass die erste Generation von Südtirolern, die staatsbürgerlich zu Italienern wurden, kaum oder nur verhalten reagiert. Bis auf wenige kleine Gruppen – die auf Hitler hoffenden Illegalen, die Hitler-Gegner vom Andreas-Hofer-Bund – fügt sich ein Land beinah ohnmächtig dem Staatenwechsel, dann der faschistischen Diktatur: Die Machtergreifung Benito Mussolinis durch den Marsch auf Rom 1923 beginnt ein Jahr vorher mit dem Marsch auf Bozen. Südtirol nimmt es scheinbar wehrlos hin, schaut zu, wie den Bauern die Gründe für Industriebetriebe und Wohnsilos zur Ansiedlung italienischer Zuwanderer enteignet werden, behilft sich gegen Kultur- und Sprachverbote nur mit einer Untergrundschule, die meist von jungen Frauen heroisch aufrechterhalten wird, letztlich aber nur einen Bruchteil der Bevölkerung erreichen kann. Der Tiroler Mythos, sich gegen fremde Herrschaft aufzulehnen, 1809 im Aufstand gegen Napoleon begründet, scheint gegen eine solche Macht seine magische Kraft zu verlieren.[3]
Natürlich: Das Land ist militärisch besetzt, der Faschismus installiert ein Terrorregime, verhaftet willkürlich, entzieht Berufsgenehmigungen, kontrolliert die Medien. Aber reicht das als Erklärung, warum der Widerstand so verhalten ist? Die deutsche Sprache wird verboten, die Familiennamen auf den Gräbern werden ins Italienische übersetzt, jeder Hirschknopf auf dem Hemd wird geahndet, aber der Hass bleibt in der Faust, die im Sack bleibt. Hofft das Land auf Hitler, der es – durch das Optionsabkommen 1939 – erst recht an Mussolini verkauft? War das Trauma des zerbrochenen Altösterreichs ein zu schwerer Schock, um sich noch auflehnen zu können? Hat der Erste Weltkrieg, dessen Entfesselung brutalster Tötungsgewalt ein lange nachwirkender Schock ist, die Menschen gelähmt, gefügig gemacht für den Befehl der starken Hand, von welcher Seite auch immer?
1939, als das Optionsabkommen die Südtiroler nötigt, zwischen der Auswanderung ins Deutsche Reich oder dem – möglicherweise rechtlosen – Verbleib bei Italien zu wählen, bricht die Aggression nicht gegen ein solches Zwangssystem aus, sondern innerhalb der Südtiroler Bevölkerung – zwischen Dableibern und Gehern, den Deutschland-Optanten.[4] 1943, als die deutschen Truppen einmarschieren, werden diese als vermeintliche Befreier bejubelt. Aber was für eine Befreiung ist das? Wohl wird die deutsche Schule wieder hergestellt, die Südtiroler dürfen ihre Trachten hervorholen und schlagen ihre Hacken vor dem Hakenkreuz zusammen. Aber es ist keine Befreiung, sondern nur der Wechsel des Gewaltsystems: Die zweieinhalb Jahre NS-Herrschaft kosten mehr Todesopfer auch unter der deutschsprachigen Bevölkerung als die 17 Jahre Faschismus, die Diktatur trägt zwar nicht mehr fremde Stiefel, spricht die deutsche Sprache, aber sie geht grausam gegen Gegner und Unliebsame vor, verfolgt Juden, Optionsgegner, Partisanen, Priester, ja auch nur unliebsame Nachbarn, die vom deutschen Dorfkommissar an die Front geschickt werden. Das Land, das in Opferhaltung erstarrt war, belädt sich in kurzer Zeit mit einer bis in die Gegenwart verdrängten Schuld. Südtiroler schlägt es zwischen den Fronten hin und her – zwischen Mussolini, Hitler, einem dankbar besetzten Österreich, einem nur halb und halbehrlich befreiten Italien, das Südtirol die Befreiung versagt.
Das Ende des Krieges schenkt nur kurze Hoffnung: 155.000 Unterschriften werden für die Selbstbestimmung und die Rückkehr Südtirols zu Österreich gesammelt, in Bekennerschreiben zu allerersten, noch vereinzelten Sprengstoffanschlägen 1946 und 1947 wird die Wiedervereinigung Südtirols mit Tirol verlangt. Doch das Anliegen hat keine Chance. Die Autonomie, die am 5. September 1946 bei den Friedensverhandlungen in Paris gewährt wird, ist kein Trost, sondern eine Enttäuschung.[5] Der Vertrag ist grad eine Schreibmaschinenseite lang, vage, die Umsetzung wird zum Gaunerstück italienischer Politik: Südtirol muss sich die mühsam errungenen Selbstverwaltungskompetenzen mit dem italienischen Trentino teilen, dadurch haben die Italiener wieder die Mehrheit. „In Südtirol wurden die Musikanten ausgetauscht, aber die Musik ist geblieben“, sagt Ende der 50er Jahre der Trienter Gefängnisdirektor zum Attentäter und Häftling Hans Stieler mit einem gewissen Verständnis für dessen Vergehen gegen einen solchen Staat.
Schon in den ersten Monaten nach Inkrafttreten des neuen Autonomiestatutes zeigt sich dessen Kraftlosigkeit: Die italienischen, meist faschistischen Beamten behalten ihre Posten, die Rückkehr von Kriegsgefangenen wird verzögert, die Mitgliedschaft in der neu gegründeten Sammelpartei der Südtiroler, der SVP, als antiitalienische Tätigkeit beargwöhnt, deutsche Beamte werden entlassen. Auf die Wunden der Option wird nicht Salbe gestrichen, sondern Salz gerieben: Immer wieder droht Italien damit, jenen Südtirolern, die für Deutschland optiert hatten, das Verbleiben in Südtirol zu verwehren, droht mit Massenausweisung und behandelt jene, die schon ausgewandert sind, wie Ausländer. Erst als die SVP 1948 dem Autonomiestatut halbherzig zustimmt, gewährt die Regierung ein Einlenken in der Optantenfrage – es war schlicht Erpressung.
Doch die Umsetzung der Autonomie gerät im Trentiner Regionalrat ins Stocken, auch die Revision der Option ist mit Schikanen gekoppelt, späten Rückoptanten steht eine ablehnende Bürokratie im Weg. Während ihnen Wohnungshilfen verwehrt bleiben und auch die von den Höfen weichenden Erben in den Städten weder Arbeit noch Wohnung finden, wird die Zuwanderung weiter forciert. Bei E-Werks- und Straßenbauten kommen deutschsprachige Südtiroler kaum zum Zug, auch nicht einheimische Italiener, sondern fast ausnahmslos neue Zuwanderer. Die Absicht ist klar, Giulio Andreotti – später verdient um eine Verbesserung der Südtirol-Autonomie – spricht um 1950 ganz im Geist seines Lehrmeisters Degasperi, als er sagt, man müsse Geduld haben: In einer Generation werde sich das Südtirol-Problem zugunsten der Italiener gewendet haben. In geheimen Akten heißt die italienische Strategie unverblümt „politica del 51 %“, die Politik der 51 Prozent, erreichbar durch Zuwanderung: Sobald die italienische Bevölkerung die Mehrheit erreicht habe, sei das Südtirol-Problem gelöst.[6] Alcide Degasperi wird bei seiner Wahlrede 1953 in Trient mit einem Plakat begrüßt als „der Mann, der das Alto Adige für Italien rettete“[7]. „Endlich einmal sind wir mit Mussolini gleichen Sinnes“, hatte sich der erste Ministerpräsident Nachkriegsitaliens und Vertragskünstler von Paris schon in der Zwischenkriegszeit unverblümt zur faschistischen Entnationalisierungspolitik bekannt.[8]
„Wir waren täglich solchen Schlagzeilen ausgesetzt“, erinnert sich Siegfried Carli an seine Jugend: Zurückgewiesene Dekrete etwa für die Errichtung deutscher Volks- und Mittelschulen, obwohl der Sprachenschutz noch das stärkste Element des Pariser Vertrages ist, Boykott einer mehrfach geforderten deutschen Kindergärtnerinnenschule. Das Lesen der einzigen deutschsprachigen Tageszeitung „Dolomiten“ ist eine fieberhafte, täglich aufregende Übung. Am 15. Jänner 1952 drucken die „Dolomiten“ eine Statistik über die Zuwanderung ab: 1918 gab es 3 Prozent Italiener in Südtirol, 1921 waren es 10 Prozent, 1931 20 Prozent, 1951 35 Prozent – mit der Aussicht auf eine weiter steigende Kurve, die Kanonikus Michael Gamper, „Dolomiten“-Herausgeber und politischer Kopf des passiven Widerstandes unter dem Faschismus, in eine knappe, aber wirksame Formel bringt: ein „Todesmarsch“.[9]
Das sind die Bilder, mit denen die Südtiroler nach dem Krieg aufwachsen: der Todesmarsch, ein Schweigemarsch der Südtiroler Kriegsinvaliden gegen Benachteiligungen bei der Rente, die Fotos italienischer Zuwanderer am Bahnhof Bozen, die stetig wachsenden Industriegebiete und Neubauviertel in Bozen und Meran, der Bau von E-Werken und Wohnheimen für die auswärtigen Arbeiter, während die jungen Südtiroler auswandern, weil sie keine Wohnung und Arbeit bekommen: „Bei mir in der Nachbarschaft waren drei Burschen“, sagt Siegfried Steger, „alle drei mussten sie ins Ausland, weil in Südtirol keine Arbeit für sie war.“ Luis Amplatz, eine der schillerndsten und tragischsten Persönlichkeiten unter den Attentätern, hat – wie seine Frau sich erinnert – jahrelang vergeblich bei den italienischen Industriebetrieben angeklopft, um seine junge Familie ernähren zu können, das kleine Anwesen reichte dazu nicht. Die Rede vom „Volkstod“ ist alltäglich: Auf der SVP-Landesversammlung 1956 ist das Hauptthema die Zuwanderung, die den Pariser Vertrag „zunichte“ mache. Die „Dolomiten“-Schlagzeile lautet: „Südtirol will sich entschlossen seines Lebens wehren.“ Ein kollektiv empfundener Existenzkampf wird ausgerufen – wen wundert es, dass die Mittel jene sind, die aus Ohnmacht entstehen?
Fast alle, die zur Gewalt greifen, versuchen es in den Jahren davor mit friedlichen Zeichen des Protestes – das Hissen der verbotenen Tiroler Fahne, das Anstreichen von Fensterläden in den Landesfarben Weiß-Rot, auch dies verboten und gerichtlich verfolgt, Aufschriften gegen den Staat und für die Rückkehr zu Österreich. Es regt sich, anders als unter dem Faschismus, Widerstand: Die Geduld ist am Ende, ist eine Erklärung dafür. Die andere Erklärung ist: Es gibt erstmals auch Zeichen der Ermutigung. Der politische Rahmen im Europa der Nachkriegszeit ist neu gezeichnet, die Medien sind nicht mehr totalitär kontrolliert. Österreich erhält 1955 den Staatsvertrag, die österreichische Politik gewinnt Handlungsspielraum, in Südtirol drängt eine neue Generation an die Spitze der SVP, nicht mehr zum geduldigen Verhandeln bereit, sondern forscher im Fordern. 1955 tritt Hans Dietl, der zur politischen Symbolfigur für die Attentäter wird („Dietl wählen war damals eine Losung“, sagt Siegfried Carli), aus der Regionalregierung zurück und zwingt damit auch die lange zögernde SVP zu einem härteren Kurs, 1957 drängt der „radikale“ Flügel die „gemäßigte“ Gründergeneration der SVP um Erich Amonn ins Eck und setzt mit Silvius Magnago einen Charismatiker an die Spitze der Partei: Die Massenkundgebung auf Sigmundskron 1957 ist nicht nur der Auftakt zu einem neuen politischen Kurs der SVP für eine neue Autonomie, sie lässt auch den BAS zusammenrücken im Kampf um Selbstbestimmung.
Jetzt bricht vieles auf, was lange unterdrückt war. Fast jeder der Attentäter hat eine quälende Kindheitserinnerung aus der Zeit des Faschismus: Ob es die kleine Schwester war, der Faschisten die Knöpfe vom Dirndl rissen, ob es die Ohrfeige war, die der Lehrer wegen eines deutschen Wortes verpasst hatte, ob es der Vater war, der von Faschisten erniedrigt worden war und sich nicht wehren konnte, ob sie verhaftet wurden, weil sie deutsche Lieder gesungen hatten, wie es dem 17-jährigen Luis Steinegger zusammen mit mehreren Kalterer Burschen widerfahren ist. Sepp Innerhofer wurde verprügelt, als er vom verbotenen Singen heimkam. Luis Amplatz saß sechs Wochen, weil er sich bei einem Fest wegen seiner weißen Stutzen provozieren ließ und das Stilett in der Lederhose zeigte. Sie verbrachten die Jugend im Krieg, erlebten die Verrohung, schauten dem Tod ins Gesicht und kamen aus einer Welt in Trümmern in ein Land zurück, das ihnen wieder nicht gehören sollte. Fast jeder erlebt auch jetzt, im demokratischen Italien, persönliche Verfolgungen wegen eines harmlosen Aufbegehrens, wegen des Feierns eines Festes, wegen eines friedlichen Protestes. Die Romanfigur Robert, in der eine frustrierte, geschlagene und nun zurückschlagende Generation verdichtet ist, beginnt sich zu wehren. Die Faust will aus dem Sack.
[1] Klier 1957: 9-471
[2] Rede anlässlich der Verleihung des Südtiroler Pressepreises, in: Gatterer 1991: 326
[3] Zu Annexion, Faschismus, Widerstand, NS-Zeit, Kriegsende sei stellvertretend für viele auf die wertvollen Werke von Freiberg (Heinricher) 1989, Steurer / Verdorfer / Pichler 1997, von Lun 2004 und Heiss / Pfeifer 2000 verwiesen
[4] Zur Option sei wegen des jüngeren, frischen Zugangs auf Foppa 2003 verwiesen.
[5] Zum Pariser Vertrag sei stellvertretend auf Golowitsch / Fierlinger 1989 sowie auf das mit vielen Neuheiten zum Taktieren Degasperis aufwartende Werk von Stadlmayer 2002 verwiesen
[6] Steininger 1999, Bd. 1: 234.
[7] Steininger 1999, Bd. 1: 143.
[8] Steininger 1999, Bd. 1: 144.
[9] Dolomiten, 28.10.1953